Ruth Wolff (Gesine Cukrowski) definiert sich vor allen Dingen als Ärztin. Diesem Beruf fühlt sie sich verpflichtet. Weitere Gruppenzugehörigkeiten findet sie überflüssig. Dass sie jüdisch ist, hält sie für unwichtig. Das Einsortieren in Schubladen hätte schließlich in Deutschland schon einmal für verheerende Folgen gesorgt. Doch in einer Podiumsdiskussion, der sie sich am Schluss der Ereignisse stellt, hält ihr eine schwarze Wissenschaftlerin und Aktivistin vor: Ja, sie könne sich das als privilegierte weiße Akademikerin leisten. Sie selbst habe diese Wahlmöglichkeit als Schwarze nicht. Sie werde immer sofort in eine Schublade gesteckt und mit Vorurteilen konfrontiert. Das ist das erste Mal, dass Wolff nicht sofort eine geschliffene Antwort parat hat und ins Nachdenken gerät. Ansonsten ist Frau Professorin Wolff keine, die sich leicht aus der Fassung bringen lässt. Sie hat ihre Überzeugungen aus reiflicher Überlegung gewonnen und steht zu ihren Entscheidungen. So auch, als sie einem Pfarrer den Zutritt zu einem sterbenskranken Mädchen verwehrt, der ihr auf Wunsch der Eltern die letzten Sakramente geben will. Wolff will aber dem Mädchen, das seinen Tod nicht ahnt, ein friedvolles Sterben ermöglichen. Daraufhin entbrennt eine erregte Diskussion, zuerst in der Klinik selbst, dann in der Öffentlichkeit und den Medien. Durfte die Ärztin dem Mädchen den kirchlichen Segen verweigern? Hat sie das nur getan, weil sie keine Christin sondern jüdischer Abstammung ist? Genau das unterstellen ihr ihre Gegner, die bald immer zahlreicher werden und sogar die Zukunft der Klinik in Frage stellen. Wie die Ärztin sich diesen Anfeindungen stellt, wie ihre Kolleg:innen sich entweder von ihr absetzen oder ihr den Rücken stärken, das ist an sich schon höchst spannend auf der Bühne dargestellt. Doch die Inszenierung am Ernst Deutsch Theater geht noch viel weiter. In der Neuinterpretation des Stückes von Robert Icke frei nach Arthur Schnitzlers Professor Bernardi werden die Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Minderheit und Mehrheit bis in alle heutigen Diskurse fortgeschrieben. Hier geht es um Identitätszuschreibungen, um Kolonialismuskritik, um Wokeness, um Gatekeeper, um Privilegien, um Gender, um Binärität. Kaum ein Schlagwort der heutigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Marginalisierung, Teilhabe und Diversität wird ausgelassen. Dazu werden auf der Bühne von Regisseur Hartmut Uhlemann die Geschlechter und Hautfarben der Rollen zusätzlich noch kräftig durchgemischt. Chefärzte werden von Frauen gespielt, die Pressesprecherin von einem Mann, der jüdische Kollege von einem schwarzen Schauspieler. Dennoch zieht das Stück die Zuschauer:innen in seinen Bann. Nie wird zu dick aufgetragen, immer bleiben die Figuren glaubwürdig und verkommen nie zu einer Repräsentationsfläche. Das gilt bis in die kleinste Nebenrolle. Immer haben die Menschen auf der Bühne auch noch eine zweite Seite, die das divers und hervorragend besetzte Ensemble nachfühlbar interpretiert. Zum Schluss gab es begeisterten Applaus und Standing Ovationen. Verdient, denn das Stück scheut keine Konflikte und beleuchtet dennoch alle Aspekte wohl differenziert. Birgit Schmalmack vom 22.4.24
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Die Ärztin, EDT Foto: Oliver Fantitsch
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