Zuerst ein Politiker der anpackt, der sich nicht zuschade ist, schweißtreibende Aufbauarbeit zu leisten, später ein Gebrochener, der sich an zwei Krücken dahin schleppt. Dabei hatte die Priesterin (Karin Neuhäuser) doch im Prolog gewarnt: Der Wunsch nach Selbsterkenntnis stehe im krassen Gegensatz zum Selbsterhaltungstrieb. “Stand es am Klingelschild? Oder auf der Fußmatte, dieses miese "Erkenne Dich selbst"?“ Denn forsche der Mensch zu sehr in seinem Inneren, erkenne er Dinge, die er besser nicht gewusst hätte. So sieht das Publikum im Schauspielhaus zwei Stunden lang einem Mann zu, der diesem Selbsterkenntnisprozess betreibt und dabei zusehends von einem Macher zu einem Gebrochenen wird. Man kennt die tragische Geschichte von Ödipus, der unschuldig zum Schuldigen wird, der seiner Weißsagung, er werde zum Mörder seines Vaters werden und mit seiner Mutter ein Kind zeugen, durch Flucht zu entkommen versucht und damit umso zielstrebiger in sein Schicksal läuft. Doch das weiß er noch nicht, als er mit voller Tatkraft immer weitere Schubkarren voller Erde an den vorderen Bühnenrand karrt und einen passablen Erdhügel aufschichtet, in den er seinen Thron rammt. Zwar wirkt das Arrangement aus einfachem Tisch und Stuhl alles andere als stabil, aber Ödipus versucht Stolz und Würde auszustrahlen, als er sich hinter den Tisch klemmt. Schließlich hat er die führungslose Stadt Theben wieder aufgerichtet und die verwitwete Königin geheiratet. Hier sitzt er nun und hat das Sagen. Er hat sich seine Stellung verdient erarbeitet. Soviel ist sicher. Denkt er zumindest. Doch weit gefehlt. Es liegt eine Epidemie über der Stadt und das Orakel von Delphi hat verkündet, dass der Grund für die Heimsuchung durch die Seuche die Schuld eines Menschen in der Stadt sei. Er werde hart durchgreifen, verkündet der Macher sofort, wer immer es sei. Doch nur einen Seherspruch (Michael Wittenborn ) später und er schreit und greint wie ein trotziges Kind. Versucht seine Frau (Julia Weiniger) ihn auch noch zu beschwichtigen und von dem Fehlurteil des Sehers zu überzeugen, der Erkenntnisprozess ist in Gang gesetzt und lässt sich nicht mehr aufhalten. So langsam dämmert es Ödipus. Er ist der Schuldige. Unter dieser Wucht der Erkenntnis bricht er zusammen, sticht sich die Augen aus und steht heulend und sich selbst bemitleidend vor den Bürgern. Vorbei die Macht- und Machergesten. Den Thebenern steht keine starke Persönlichkeit sondern ein großes Kind in der Gestalt eines Mannes, das dem Prozess der Selbsterkenntnis nicht gewachsen ist, gegenüber. Ob er wirklich Schuld auf sich geladen hat, ob er unschuldig schuldig geworden ist, ob er mehr Täter als Opfer ist, das alles hinterfragt er nicht. Er bleibt in der Rolle eines Ohnmächtigen, den die Götter hin- und herschleudern und der dabei von seinen Emotionen überwältigt wird. In der Neuinterpretation von Roland Schimmelpfennig des dritten Teils der Antiken-Serie im Schauspielhaus unter der Regie von Karin Beier bleibt dieser Ödipus ein zu groß geratenes Kind mit Machoallüren, das dem Orakelspruch nichts entgegenzusetzen hat, ja es nicht einmal versucht. Die Vielschichtigkeit, die Schimmelpfennig der Priesterin zugedacht hat, hätte man sich auch für die titelgebende Hauptfigur gewünscht. Ihren inneren Konflikt hätte man gerne auf der Bühne verfolgt. So darf David Striesow nur Stationen aber nicht die Entwicklung seines Erkenntnis-Prozesses zeigen. Grandios dagegen ist der Chor der Bürger. Dreißigköpfig, positioniert zu beiden Seiten des Oberrangs und mit Schlagwerkzeugen ausgestattet, lässt er das Schauspielhaus erschauern ob der Ohmächtigkeit des Menschen, der seinem Schicksal schutzlos und ausweglos ausgeliefert ist. Eine traurige Botschaft angesichts der derzeitigen Weltenlage. Birgit Schmalmack vom 19.10.23
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