Welche Wut und Hoffnungslosigkeit treibt einen Menschen so weit, dass er sich mit Benzin übergießt und öffentlich verbrennt? Der Prager Student Jan Palach war so einer. Er wollte damit ein sichtbares Zeichen gegen das Unterdrückungssystem der Sowjetunion setzen und sah keine andere Möglichkeit sich dagegen zu wehren. Ein Journalist (Felix Knoop), der sich gerade wieder aus seiner eigenen Depression herausgearbeitet hat, recherchiert genau zu diesem Thema, vielleicht auch um darin seiner eigenen Verzweiflung an der Welt zu begegnen.
Um das Feuer des Protests in all seinen Ausformungen geht es in Kirill Serebrennikovs neuster Arbeit am Thalia Theater. Doch auch um das Vergnügen, um das Feiern, um das Verschwenden, um das Ungeschliffene. Deshalb hat er sich als musikalisches Material für seine Widerstandsrevue bei Barockgrößen des 17. und 18. Jahrhunderts von Monteverdi über Händel und Telemann bis Rameau und Purcell bedient. "Barocco" bezeichnet ursprünglich eine unregelmäßige, unebene Perle, die von allen Seiten unterschiedliche Schattierungen zeigt. Die Folie dieser historischen Epoche, die in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges ihren Höhepunkt hatte und die das Gebrochene, das Unwissende, das Unscharfe zu umkreisen versuchte, wird zu seiner Assoziationsquelle für ein loses Arrangement von Geschichten von Menschen, die sich zur Wehr setzen, weil sie die Zustände nicht mehr ertragen können. Die den Mut haben, sich dagegen zu outen, sich nicht wegzuducken, sondern zu protestieren.
Serebrennikov selbst setzt damit auch ein klares Zeichen in diesen Zeiten des Krieges. Er, der russische Künstler, der aus seinem Land emigrieren musste, positioniert sich für die freie Meinungsäußerung, für den Widerstand, für den Protest und für die Freiheit der Kunst. Doch immer vor dem Hintergrund des Feierns am Abgrund. Der Schmerz über den Verlust lässt die Mutigen aufstehen und sich vereinigen. So stehen bei ihm die Aufständischen der 68-er vor den Pailletten geschmückten Partypeople der 90-er und denen der Letzten Generation von heute. Im Vordergrund jedoch ein Pianist (Daniil Orlov), der einhändig Piano spielt, während ein Sicherheitsbeamter seine andere Hand in Handschellen fesselt. Ein schönes Bild für die Macht der Kunst selbst unter schwierigsten Bedingungen.
Serebrennikov glänzt wie stets mit seiner wohl ausbalancierten Mischung an politischen aufrüttelnden Botschaften und verschwenderischer inszenatorischer Schönheit. Er feiert den Protest in seiner ganzen Bandbreite und Uneindeutigkeit. So finden alle im Publikum etwas, was sie fasziniert. Die einen den Aufruhr zum wehrhaften Aufstehen und die anderen den zum Feiern der Kunst.
Birgit Schmalmack vom 19.10.23
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