Kanon, Kampnagel

Dem Vergessen entreißen




Theater ist ein flüchtiges Medium. Festhalten lassen sich die Erinnerungen an die Erlebnisse, die alle Anwesenden auf der Bühne und im Zuschauerraum miteinander teilen, nicht. Was davon hängen bleibt bzw. wie wenig davon im Gedächtnis gespeichert wird, davon erzählt dieser Theaterabend. Sollte er als Hommage an das bewegende Potential der Bühnenkunst gedacht, fällt diese äußerst dürftig aus. Denn der die Erinnerung der Zuschauenden gleicht eher einem schwarzes Loch, in dem vieles des mühsam Erarbeitenden auf Nimmerwiedersehen verschollen ist. So sind es nur die Momente, die direkt in die Herz- und Bauchregion treffen, die haften bleiben. Kaum ein textliches Bruchstück schafft es aus dem Nirvana der Erinnerung wieder an die Oberfläche gezerrt zu werden.

Ganz der Wiederholung ist dieser Abend gewidmet, um diese Momente dem Vergessen zu entreißen. Doch nur wer einen dieser Momente selbst erlebt habt, wird sie durch diesen Erinnerungsabend in einer seiner Gedächtnisschubladen wieder hervorkramen können. Leider fügt diese Theaterarbeit dem Erinnerungswürdigen auch nichts Neues hinzu. Von diesem Abend wird man nur die plakativen, um Aufmerksamkeit werbenden Kostüme von Lea Søvsø, die in poppigen Andeutungen einige "Säulenheiligen der Aktionskunst" wie Joseph Beuys, Valie Export oder Yves Klein zitieren, in Erinnerung behalten. Auch wenn es nett ist, dem Team der sieben sympathischen Performer:innen auf der Bühne zuzuschauen, wie sie nach den vagen Beschreibungen der Einzelnen versuchen, mit ihren kargen Requisiten den einen Moment auf der Bühne zu rekonstruieren, bleibt der Output dürftig.

Interessant aber, dass es genau zwei Momente schaffen, aus dem Aufzählungscharakter der anderen herauszustechen: Wenn Ilia Papatheodorou sich an ihre Erstbegegnung 2011 mit der amerikanischen Hardcore-Performerin Ann Liv Young in "Cinderella" erinnert. Papatheodorou spielt deren damalige Verbalattacken ähnlich hautnah nach, während sie sich nur mit einem Betttuch bekleidet, durch die Zuschauerreihen wühlt. Der zweite Moment entsteht, als eine Zuschauerin spontan von ihrem „Moment“ erzählt. Dann entsteht in all der Ansammlung von konzeptueller Hochkunst eine Szene aus dem Musical „Wicked“, in dem Lisa Lucassen auf einer Leiter stehend die einst einschwebende Sängerin nachahmt. Wenn die Zuschauerin dann gefragt wird: „Ist das der Moment?“ und beglückt die Arme in die Luft reckt, ist zum ersten Mal echte Emotion zu spüren, die etwas länger in Erinnerung bleiben wird, als dieser Abend dauerte. Erzählte Erinnerungen erzeugen keine Berührungen, nur wer einzelne Theatermomente ebenfalls erlebt hatte, dem werden diese Gedächtnishilfen helfen, sie weiterhin bewahren zu können. Also eher ein elitärer Abend für Theaternerds.

Birgit Schmalmack vom 15.10.22




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