Draußen vor der Tür, Berliner Ensemble

Kein Mensch nirgends


Der ganze Himmel hängt voller bunter Glühbirnen (Bühnenbild: Olaf Altmann), verheißungsvoll, denn schließlich ist der Krieg endlich vorbei. Die Vergangenheit ist endlich ein geschlossenes Kapitel. Jedenfalls sollte sie es sein. Davon kündet auch das Lied, das aus dem Dunkel unter den Birnenhimmel erschallt: „It is the dawn of a new day!“ Es wird gesungen von einem Mann, der vor einem Tag zurück nach Deutschland gekommen ist, vermeintlich nach Hause. Doch alle Türen sind zu. In dem Bett, das er noch vor drei Jahren mit seiner Frau teilte, liegt ein anderer. Er selbst taugt mit seinem Hinkebein, seinen strubbeligen Haaren, seiner zerrissenen Kleidung und seiner Gasmasken-Brille eher als Vogelscheuche denn als jemand, den man herzlich willkommen heißen würde. Er ist ein Gespenst des Krieges, das die Menschen, die zu vergessen wünschen, nicht sehen wollen. Er weiß sofort: Er passt hier nicht her.

Beckmanns stummer Schrei, der den Beginn und das Ende dieser Inszenierung von Michael Thalheimer im Berliner Ensemble bildet, erinnert an Edward Munchs berühmtes Bild. Der Regisseur hat in seiner Inszenierung des leider wieder sehr aktuellen Textes von Wolfgang Borchert den Schrecken bis ins Groteske ausbuchstabiert, und zwar bis in das letzte Detail jedes Kostüms und jeder Figurenzeichnung. Bei ihm gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass Beckmann die einzig richtige Wahl trifft, wenn er gleich zu Beginn Schluss machen will. Für Menschen mit einem Herz ist hier kein Platz mehr. Für einen leisen, weichen wie Beckmann, der nicht vergessen kann, erst recht nicht. Doch diese Regie-Haltung erlaubt keine Entwicklung, auch nicht für die Hauptfigur Beckmann, die bei Thalheimer von Kerstin Wehlisch gespielt wird. Sie arbeitet sich im Folgenden an der langen Liste ihrer Begegnungen ab, die sie immer nur noch tiefer hinabstürzen in ihre Todessehnsucht.

Beckmann will nur noch schlafen, am besten nie wieder aufwachen. Er will ein ewiges Bett in der Elbe suchen. Doch die Elbe (an diesem Abend Constanze Becker) spuckt ihn wieder aus. Ihr, der gealterten Frau in Neglige und Plüschpantoffeln, ist dieser Lebensanfänger noch zu grün, sie spuckt ihn wieder aus. Der Tod (Jonathan Kempf) dagegen ist voll gefressenes rülpsendes aufgeschwemmtes Etwas, dessen Geschäfte in diesem Jahrhundert gut liefen. Ganz im Gegensatz zu denen des alten Mannes namens "Lieber Gott“ (Peter Luppa), der in seinem zu eng gewordenen Hochzeitskleid daherkommt. An ihn glaubt und auf ihn hört keiner mehr. Ein todesbleiches Mädchen (Philine Schmölzer) zieht den halbtoten nassen Fisch-Mann nach seinem missglückten Selbstmordversuch aus dem Wasser. Das Messer in ihrer Hand und die Verbände um ihre Handgelenke zeugen davon, dass ihrer beider Verzweiflung ähnlich groß sein dürfte. Hilfe ist auch hier eher nicht zu erwarten. Die Zuflucht in ihrem warmen Zimmer ist begrenzt, denn ihr Mann, ein athletisches Frankenstein-Monster (Oliver Kraushaar) mit einem riesigen Blutfleck auf dem Kittel, kehrt zurück. Wieder Tür zu und raus auf die Straße. Beckmann stattet seinem ehemaligen Oberst (Veit Schubert) einen Besuch ab, er will endlich die Verantwortung die er ihm auf dem Schlachtfeld übertrug, zurück geben. Denn diese lässt ihn keine Nacht mehr schlafen. Jede Nacht wacht er von seinem eigenen Schrei auf, wenn er wieder von dem General träumt, der auf dem Knochen Xylophon spielt und die Toten aus den Massengräbern aufstehen lässt. Doch der Oberst hält ihn nur für eine komische Figur und schickt ihn auf die Bühne. Natürlich will ihn auch der Rollschuh laufende Theaterdirektor (Tilo Nest) nicht. Viel zu ernst und wenig unterhaltsam.

Die Glühbirnen fangen an zu flackern, während Beckmanns Irrewerden an dieser Welt immer weiter anschwillt, in der alle ihm raten, wieder ein Mensch zu werden, er aber keinerlei Menschlichkeit finden kann. Im ersterbenden Licht der Birnen greift er zum Messer und schneidet sich entschlossen die Kehle durch. Dieses Mal soll es gelingen, endlich glaubt er sich dem erlösenden Tode nahe, doch nur die Dunkelheit und der Nebel nehmen zu. In diesem Übergangsstadium sieht er noch klarer. Alle Wut, alle Aufruhr, alles Aufbegehren, alles Aufbäumen ist nun einer resignativen Bestandsaufnahme gewichen. Beckmann hat nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen. Seine Lebenserfahrung dürfte jetzt für die Akzeptanz durch den Tod ausreichen. Er hat endgültig genug gesehen. Sein Wehklagen über diese völlig aus den Fugen geratene Welt der Gewalt, der Verrohung, des Hasses und des Blutes spricht Wehlisch in dieser letzter Phase mit ruhiger, gefasster, rein analysierender Stimme.

Bis dahin hatte sie jedoch die ganze Klaviatur der Stimmungslagen durchgespielt. Nur ihr Schrei blieb stumm, ansonsten versuchte sie gegen das Unheil der Zeit gegenanzuschreien, zu klagen, zu wimmern, zu wüten, zu kreischen, zu weinen, zu rufen, zu winseln. Wenn sie selbst „die Andere“ spielt, die in ihrem Kopf den Ja-Sager, den Optimisten gibt, wird sie sogar fiepsig. Dabei sollte diese Stimme doch die stärkere sein, die zum Weiterleben aufruft. Es fällt schwer, diesem einzig verbliebenen Menschen innerhalb dieses Gruselkabinetts aus Horrorclowns zuzusehen. Wenn alle anderen zu Karikaturen verkommen und zu lebenden Metaphern werden, hat es selbst Wehlisch schwer Menschlichkeit zu zeigen. Denn Beckmann ist als Soldat zugleich Täter und Opfer. Will man nicht zu einem Mörder werden, muss man abtreten. So erscheint auch er so stark infiziert von der Inhumanität dieses Landes, dass er unter Thalheimers Regie zu einem Kunstobjekt geworden ist, das sein Menschsein mehr behauptet als es verkörpert. Dass das Stück rein die deutschen Opfer unter den Soldaten und den Zivilisten in den Blick nimmt und die Millionen Opfer der von den Deutschen Ermordeten draußen vor Erinnerungstür lässt, ist der Zeit der Entstehung geschuldet. Doch diesen Aspekt heutzutage zu übergehen, wirft Fragezeichen auf. Nur kurz deutet sich diese Thematik an, als Beckmann an der Tür seiner Elternwohnung anklopft und dort von dem Selbstmord seiner Eltern erfährt. Diese allzu sehr überzeugten Nazis hätten sich selbst gründlich entnazifiziert, berichtet die Nachmieterin (Bettina Hoppe). Kein Moment des Innehaltens folgt; schnell kehrt Beckmann wieder zu seiner selbstbezogenen Trauer über einen weiteren Verlust zurück. Auch seine Nazi-Eltern kann er nur als Opfer dieses Krieges sehen. So ist Thalheimers Botschaft klar: In und nach Kriegszeiten kann keine Menschlichkeit überleben. Jede*r macht sich mitschuldig.
Leider ist die Inszenierung zu programmatisch in ihrem Bemühen alles Gefühlige zu vermeiden, um wirklich zu berühren. Regietheater vom handwerklich Feinsten, aber mit nur wenig Seele. So wird dieser Text zu Regie-Postulat, das zwar wenig falsch, aber deswegen nicht alles richtig macht.
Birgit Schmalmack vom 12.4.22


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