Scheinbar ganz privat: Lisa Politt kommt abgehetzt und ein wenig verspätet auf die Bühne. Doch sie hat gute Gründe. Schließlich muss sie sich zurzeit nebenbei noch um ihre Mutter kümmern. Die ist pflegebedürftig und stellt die Tochter vor ganz neu Herausforderungen. Denn ihr Verhältnis kann durchaus als nicht ganz störungsfrei beschrieben werden. Diesmal nimmt Politt nicht ihr Paarbeziehungsgeflecht in den ironisch-feministischen Blick sondern gewährt Einblicke in ihr Mutter-Tochter-Verhältnis. Im Laufe des Abends wird man zudem einige Parallelen zwischen dem Verhalten der eigenwilligen und dominanten Mutter und der ebenso widerspenstigen Tochter erkennen. Wie hat sie sie doch gleich zu Beginn so treffend beschreiben: Sie hätte die „zugreifende Zärtlichkeit einer Lazarettschwester“, wobei ihre nationalgesinnte Vergangenheit als treue Hitler-Genossin mit anklingt. Auch wenn Politt dieses Mal alleine auf der Bühne steht, hat sie einen meist unsichtbaren Sparrings-Partner. Wieder ein dienstbarer Geist, doch dieses Mal nicht wie oft Gunter Schmidt an den Tasten des Klavier sondern hinter dem Technikpult oben auf der Empore. Es ist der Co-Autor und Regisseur Christian Bartz, der hier aus dem Off nicht nur die Stich- sondern auch die Widerworte beisteuert. Wenn Politt ziemlich stolz von ihrer individuell arrangierten Pflege ihrer Mutter berichtet, stellt er hartnäckig Nachfragen. Nein, nicht ins Altersheim habe sie sie verfrachtet, sondern ihr eine 24-Stunden-Kraft besorgt. Dass diese Frau nur 50€ am Tag verdient, lockt Bartz nur mühsam aus ihr hervor. "Für jemand aus Polen ist das viel Geld!" und muss dennoch zugeben, dass die Pflege ihrer Mutter dazu führe, dass Milena ihre eigene Mutter, die ebenfalls pflegebedürftig ist, nicht umsorgen könne. Eigentlich keine angenehme Vorstellung, dass die Tochter einer Frau. die den Einmarsch Hitlers in Polen noch miterlebt hat, nun einer Frau den Hintern abwischen muss, die einst ein BDM-Mitglied war und auch jetzt immer noch nicht frei von rassistischen Vorstellungen ist. Politt spießt damit genau die Themenpalette auf, die ihr wichtig ist. Als überzeugte Aufklärerin im Fahrwasser der Alt-68-Ziger:innen liegt ihr die Aufarbeitung der immer noch verdrängten und vorhandenen Überbleibsel der Vergangenheit am Herzen. Ohne vor den eigenen Vorurteilen die Scheuklappen herunterzulassen. Und gleichzeitig den Auswirkungen der neo-liberalen Wirtschaftsverwerfungen auch innerhalb Europas nachzuspüren. Dafür eignet sich der Pflegekräfte-Markt hervorragend, weil er außerdem die demographischen Probleme Deutschlands in den Blick nimmt. Doch dieses Mal ist Politts Aufklärungsfeld sehr persönlich. Sie lässt beim Einblick in die eigene Familiegeschichte eine selbstkritische Haltung zu. Denn sie will eines auf keinen Fall: Sie will nicht dem Titel ihrer Show entsprechen. "Die Arroganz der Verlierer" ist er überschrieben. Diese Arroganz, die die Deutschen par exellence verbreiten, indem sie sich ihrer Vergangenheitsaufarbeitung so gerne rühmen, verstellt nämlich den Blick für die tatsächlichen Verstrickungen. Auch wenn das Kabarett sich zuweilen gerne der Pose der durchschauenden Besserwisserei bedient, die mit einem ironischen Rundumschlag entlarvende Witze auf Kosten anderer macht, (und auch Politt sonst dieser Haltung nicht ganz unverdächtig ist), so wirkt sie hier kein bisschen arrogant, sondern ausgesprochen selbstkritisch. Dass diese "Mutter"-Geschichte ein Zusammenschnitt aus vielen Gesprächen mit verschiedenen Töchtern ist, verrät Politt bewusst erst am Schluss der zweistündigen Abends. So verschwimmen die Bezüge in der großartigen Politt-Performance so geschickt, dass alle zu ihrer eigenen werden. Doch dieser Strang ist nur einer von vielen in ihrem jüngsten Programm, der nebenbei gesagt völlig ohne Musik auskommt. En passant hebt sie im Stile einer Sportreporterin zu einer Lobeshymne auf den Fußball König an. Doch nicht etwa im Hinblick auf die Höhe der geschossen Tore. Nein, sie hat die Spiele auf ihre Qualitäten im Corona-Infektionszahlen-Wettbewerb untersucht. Und da schneiden die Spiele im Wembley-Stadion mit überragendem Erfolg ab. An einem Tag über 3000 Neu-Infizierte! Da muss man erstmal mithalten. Außerdem darf das Publikum einem seltenen Erlebnis beiwohnen: Politt interviewt den ehemaligen AfD-Parteifunktionär Andreas Kalbitz live auf der Bühne und entlockt ihm Geständnis in einer Offenheit, die selbst die schlagfertige Moderatorin zeitweise sprachlos macht. Breitbeinig sitzt Bartz als Kalbitz in der kleinen Sitzecke und entlarvt sich selbst, wenn er grinsend meint, dass der Name seiner neu gegründeten Partei "Der Sturm" seinen Namensursprung aus den Vier Jahreszeiten von Vivaldi hätte und nicht etwa, wie Bösmeinende denken könnten, von der Nazi-Propaganda-Zeitung "Der Stürmer". Es gibt keine Nazis weil sie verboten sind, ist die logische Schlussfolgerung, die das Interview mit ihm nahelegt. Mit dieser Beweis einer immer noch höchst lebendigen rechtsradikalen Szene den Abend beschließen. Auf keinen Fall! So geht es von der großen Politik hinein in die kleine Familiengeschichte. Der Abend endet mit einer Schwarz-Weiß-Fotografie eines kleinen Mädchens auf dem Bühnenvorhang. Auch treue Volksgenossinnen, die heute demente Pflegebedürftige sind, waren einmal kleine unschuldige Kinder und hätten eine ganz andere Entwicklung nehmen können. Birgit Schmalmack vom 21.09.21
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