Der Kirschgarten, der ist und bleibt das Sehnsuchts- und Identifikationsobjekt der Gutsfamilie. Obwohl die meisten von ihnen schon lange nicht mehr auf dem russischen Landgut sondern in Paris leben, schwärmen sie dennoch weiter von diesem Kirschgarten. Ohne ihn würden sie sterben, ohne ihn wären sie nicht mehr sie selbst, so behaupten sie immer wieder. Doch dann kündigt sich das Schreckliche an: Das Gut steht kurz vor der Insolvenz und der Kirschgarten muss verkauft werden. Nicht zuletzt wegen der Geldverschwender, die in der französischen Weltstadt das auf dem Gut erwirtschaftete Geld mit allzu vollen Händen ausgaben. Besonders die Gutherrin, zu der alle aufblicken, weil sie das bewunderte Familienoberhaupt ist, ist nicht die Sparsamste. Schließlich verpflichtet der gutsherrliche Lebensstandard zu gewissen Ausgaben. In der Umsetzung des Klassikers von Anton Tschechow am Mut Theater bleibt sie folgerichtig die Abwesende. Alle reden von ihr und mit ihr, aber sie bleibt ein Phantom.
Nun kommen sie alle zurück, mit der vagen Hoffnung doch noch ihren Kirschgarten retten zu können oder wenigstens ein letztes Mal in seiner Nähe zu verweilen, bevor sie wieder entfliehen in Richtung europäischer Großstadt.
Da stolzieren sie in ihrer mit Fell verzierten Mänteln, ihren Leopardenstiefeln und blauen Plastiktüten herein. Zu einem geschlossenen Grüppchen geformt und dennoch schon lange innerlich voneinander entfernt. Sie sind keine Gemeinschaft mehr, auch wenn sie für diese Zusammenkunft das gut geprobte Spiel ein wenig mitspielen. Sie geben ihren Familienzirkus als kleine Showeinlage in ihrem Leben.
Das Regieteam Evgeni Mestetschkin und Julia Solovieva holt in seiner Interpretation mit den Schauspielschülern des Abschlussjahrgangs der iact Schule das Stück ganz in die Gegenwart. Mit ihrer körperbetonten Theatersprache, die fast ganz ohne Requisiten auskommt, geben sie jedem der Schauspieler:innen (Mike Blazewicz, David Gerbaulet, Jasmin Godau, Maria Hoyos, Jan Philipp, Rona Puff, Siris Voß) viel Raum für die Darstellung ihres Könnens. Sie tanzen, grunzen, jonglieren, balancieren, stöhnen und singen sich gekonnt durch die vier Akte des Stückes. Am Ende ist der Kirschgarten verkauft, keiner ist gestorben und die Pariser:innen ziehen wieder in ihr altes Leben zurück, um einen Sehnsuchtsort ärmer.
Birgit Schmalmack vom 22.12.21
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Mamotschka, iact Schauspielschule MUT Theater
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