Die Brieffreundschaft, Lichthof

Schuldig werden als Teil des Lebens


So stellt sich eine der Brieffreundinnen das Theaterstück vor: Wie eine Unterwasserwelt, bei der auf verschiedenen Leinwänden man Fischschwärme sieht, die tief unter der Meeresoberfläche durch ihre eigene Welt gleiten. Zwischen den Leinwänden wünscht sie sich einen Delphin, der über die Bühne schwimmt und die einzelnen Welten miteinander verbindet. Markus& Markus haben versucht, für ihr Stück „Brieffreundschaft“ diesen Wunsch möglich genau umzusetzen. Bei ihnen ist es ein, aufblasbarer, glänzender, ferngesteuerter Riesenfisch, der nicht nur zwischen den filmischen Unterwasserwelten hin- und herschwimmt, sondern sich auch bis ins Publikum vorwagt.

In dem neuesten Projekt des Theaterkollektivs stehen Briefe im Mittelpunkt, die sie sich mit vier zu lebenslänglich verurteilten Mörderinnen in US-amerikanischen Gefängnissen geschrieben haben. Sie wurden zu dieser Idee durch ihr vorangegangenes Stück Berufung animiert. Dort hatten sie nach zivilgesellschaftlichen Ideen gefragt, die die Welt verbessern könnten. Ein Ehepaar lernten sie dabei kennen, das seine Aufgabe darin sah, genau das zu tun: Durch Brieffreundschaften lebenslänglich im Gefängnis sitzenden Menschen ein Stück Hoffnung und Verbindung zum Leben außerhalb der Knastmauern zu geben. Denn in den USA bedeutet lebenslänglich tatsächlich bis zum Tode. Eine Chance auf ein erneutes Leben in Freiheit ist nicht vorgesehen. Rehabilitation ebensowenig.

So lernt das vierköpfige Kollektiv Markus&Markus (Lara-Joy Bues, Katarina Eckold, Markus Schäfer und Markus Schmans) vier Frauen kennen, mit denen sie sich über zwei Jahre lang Briefe schreiben. Anders als in ihren bisherigen Theaterstücken werden sie sie nicht besuchen und filmen können. So müssen auf der Bühne stellvertretend für die vier, die in vier unterschiedlichen Bundesstaaten einsitzen, Requisiten stehen, die Amber, April, Lisa-Jo und Maureen wichtig sind: Auf vier Podesten im Raum sind sie verteilt: ein Radio für die Musikliebhaberin, ein Tuschset für die Künstlerin, einen Bücherstapel für die Leserin und ein Bäumchen für die Naturliebhaberin.

Dennoch wird es für den Zuschauenden schwer, die jeweiligen Briefe und Geschichten den vier Frauen zuzuordnen. Zu abstrakt bleiben die Verknüpfungen. Einzig die Künstlerin unter den Briefschreiberinnen gewinnt mehr Kontur. Denn nicht nur ihre poetische Sprache und ihre philosophischen Gedanken, die ihre Briefe charakterisieren, sondern auch ihre Kunstwerke treffen im Laufe des Stückes auf der Bühne ein. Spannende Kollagen, die viel über ihre Erschafferin erzählen.

Eines wird klar: Diese Frauen mögen alle brutale Taten verbrochen haben, doch sie sind Menschen wie die, die sie jetzt auf der Bühne vertreten und wie die, die in den Stuhlreihen davor sitzen. In einem Moment ihres Lebens haben sie etwas vermeintlich Unmenschliches getan oder vielleicht auch nur etwas allzu Menschliches. Denn Fehler oder Schuld gehören zum menschlichen Leben dazu. Sollte Reue, Erkenntnis und Wiedergutmachung nicht möglich sein? Sollte jeder und jede nicht eine zweite Chance verdient haben. Markus&Markus machen ihre Haltung unmissverständlich klar, indem sie diesen Frauen einen Raum zum Menschsein erschaffen haben, in dem sie ohne Vorurteile sein dürfen.

Und wie begannen Markus und Markus doch den heutigen Theaterabend? Als Anwalt und Richter verkleidet riefen sie all die berühmten Männer und Frauen zur Rechenschaft, mit denen allabendlich die Theatersäle gefüllt werden. Medea, Salome, Penthesilea oder Lady Macbeth heißen sie. An ihnen schulen wir unser Gerechtigkeitsempfinden, doch wie steht es um die Mörderinnen von heute? Heute standen einmal sie im Rampenlicht, ohne Verurteilung.

Birgit Schmalmack vom 23.12.21






Die Brieffreundschaft, Markus&Markus Paule Reissig

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