Die Schubladen sind nicht mehr gefüllt, ihr früherer Inhalt nicht mehr geordnet. Nein, er liegt jetzt wild verstreut auf dem Boden. Noch immer, nein schon wieder, versuchen die vier Frauen, die einst in diesen Schubladen ihr Wissen verstauten, etwas Systematik in das entstandene Chaos zu bringen. Soviel sei schon jetzt verraten, es wird ihnen nicht gelingen. Denn alles ist noch unübersichtlicher, noch diverser, noch diffuser geworden. Es sind Mauern entstanden, wo doch Mauern eingerissen worden sind. Doch bei SheShePop bestehen diese Mauern nun eher aus dichtem Gestrüpp, in dem man sich leicht verlieren kann, durch das man aber auch kleine Schlupflöcher finden kann. Zehn Jahre nach ihrer Produktion "Schubladen" mit paritätischer Ost- und Westbeteiligung, in der sie ihrer unterschiedlichen Sozialisierung als Frauen nachspürten, wollen SheShePop nun sehen, was aus den Unterschiedlichkeiten geworden ist. Erst einmal das Offensichtliche: Die Parität der Seitenvertreterinnen ist nicht mehr gegeben. Drei Westfrauen steht eine Quotenossifrau gegenüber. Trocken bemerkt Johanna dazu: Das entspricht nur eurer tatsächlichen Größe in Deutschland. Sie probieren verschiedene Formen des Sichtens, des Umschichtens und Entsorgens der alten Bücher aus Kindheit Jugend und Erwachsenenalter. Vergeblich. Da helfen auch Atemübungen, Kontakthalten und eifriges Nicken nicht. Eine Gemeinsamkeit, auch nur im Hinblick auf die Einigung auf eine Vorgehensweise will nicht zustande kommen. Also müssen neue Erfahrungen her. Nun werden die Bücher unter den Beamer gelegt und die Frauen tauchen in sie hinein. Sie versuchen neue Erfahrungswelten zu erkunden. Doch auch diese Erkenntnisse bleiben ganz im Assoziativen, Esoterischen und Ungefähren. Zumal zu dieser klar erkennbaren Abgrenzung zwischen Ost und West sich jetzt noch weitere Erfahrungsräume von Frauen, die mittlerweile genauso zu Deutschland gehören, hinzugesellen. Die nichtbinäre Jahye Khoo aus Südkorea und Natasha Borenko aus Russland mischen sich als virtuelle Mitsprechende mit ein. Wenn Khoo am Ende ihre eigene Todesfeier mit allen begeht, ahnt man als Zuschauerin, dass die Grenze zum Faktischen, das die Arbeit von SheShePop sonst bestimmt hat, nun endgültig ins rein Performative und Transzendente verschoben worden ist. Genauso wie heutzutage in dieser Gesellschaft kaum noch allgemein akzeptierte Grenzziehungen, Einsortierungen und Ordnungsprinzipien möglich sind. Im Zeitalter der Individualisierung, der Personalisierung und des Fließenden sind harte Schubladen, harte Mauern zu amorphen Gebilden geworden, die sich nicht klar definieren und erkennen lassen. So hatte dieser Arbeit genau diesen Erkenntnisgewinn: Jede, die sich auf die Suche nach klar fokussierbaren Erzählungen macht, muss scheitern. Nichts ist mehr greifbar. Alles ist diffus. Ein wenig kommt die Wehmut nach alten Zeiten auf. Auch der Hamburger Applaus für das Gastspiel auf Kampnagel fiel verhaltener als sonst aus. Birgit Schmalmack vom 26.1.24
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Mauern, Kampnagel Foto: Dorothea Tuch
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