Systematische Erkenntnislosigkeit
Das Grundgesetz sollte, wie der Name schon sagt, grundlegend sein und für alle gelten, doch in der Anwendung zeigt sich: Viele sind zwar berufen das Gesetz zu verstehen, aber in diesem Fall sind nicht einmal die Nebenkläger dazu auserwählt. Doch auch für den Richter (Thomas Schmauser), der sich um Normalität bemüht, bleiben die Zeugen unsichtbar, während die Angeklagte schweigt und die vermeintlichen Täter zu Prozessbeginn tot sind. Wenn das Wissen und Erkennen so verstellt ist, hilft nur noch der Glaube. Man rettet sich in Mysterien. So treten vor den Richterstuhl drei Engel des Herrn, zwei falsche Propheten und eine Jesusfigur. Die geben ihrer Rolle gemäß nur religiös eingefärbte Formulierungen von sich, die sich für gerichtliche Ermittlungen nicht verwerten lassen. In ihre Äußerungen mischen sich krude Erlöserfantasien, die das deutsche Urvolk von der Unterwanderung durch Menschen mit unerwünschten Hintergrund schützen wollten. Über zwölf Jahre agierten sie aus dem Untergrund. Der Grund für ihre Taten, die zehn Menschen das Leben kosteten, wurde sorgsam bereitet. Auf den Schock der Vereinnahmung des Ostens durch den Westen folgte der Schock der Abkoppelung von den versprochenen Wohlstands- und Aufstiegsfantasien. Da bot der rechte Glaube, die rechte Ideologie ein Erklärungsmuster, das einfache Lösungen bot. So schritten die Jungfrau und ihre zwei Männer zur Tat. Sie benutzten stets das Gewehr mit dem Schalldämpfer und so konnte die Gesellschaft getrost die Warnzeichen überhören. Sie machte die Augen und Ohren einfach zu. Elfriede Jelinek verarbeitet in „Das schweigende Mädchen“ ihr Erschrecken, ihr Unverständnis, ihr Erschrecken und ihre Wut über die Reaktion der Behörden und der Gesellschaft auf die Morde von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und das anschließende Prozedere beim München stattfindenden NSU-Prozess, der das Schweigen und Nichterkennen nur mit anderen Mitteln fortsetzt. Sie benutzt Prozessaussagen, Bibelzitate und Zeugenaussagen um daraus assoziative Textflächen zu erschaffen, die die Ahnungslosigkeit, die Verschwörungstheorien und die Erlösungsfantasien ins Absurde übersteigern. Sie mischt bekannte christliche Zitate unter rassistische Ideologieverwurstungen. So wird das NSU-Trio zu den erlösenden Botschaftern des Herrn. Sie stecken in Ganzkörperkutten, mit der sie sich wahlweise in die Heilige Mutter Maria, den orthodoxen Priester verwandeln oder eine Tarnkappe verpassen können. Regisseur Johan Simons hat für seine Inszenierung in den Münchner Kammerspielen klar die Unspielbarkeit dieses Textes erkannt. Er lässt die sieben Schauspieler ihn in einer stets Distanz wahrenden Lesung vortragen. Nur für ironisierende Posen dürfen sie kurz aufstehen. Die Versatzstücke eines Bühnenbildes in Form von Spielfiguren des NSU-Spieles „Progromli“ stehen unbenutzt im Hintergrund. Während islamitische Terroristen den Koran als ihre Referenzquelle nutzen, stülpt Jelinek diesen deutschen Extremisten ungefragt die Bibel als Mönchskutte über. Da bleiben mehr Fragen, Provokationen, Irritationen und Verunsicherungen übrig, als sie sonst sowieso schon an Jelinekabenden üblich sind. Angesichts des Themas und ihrem eigenen, immer wieder Rat- und Erkenntnislosigkeit wohl durchaus beabsichtigt, aber weniger erhellend als vielmehr auch noch die letzten Grundlagen raubend. Birgit Schmalmack vom 29.1.15
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