Schwarze Milch

Schwarze Milch



Untergegangene Welt

Wie das untergegangene Atlantis mutet diese Welt auf dem Lande an, von der die dick eingepackten Menschen in Gummistiefeln und wattierten Jacken auf ihren Holzbänken erzählen. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis hat sie als Gastspiel im Thalia in der Gaußstraße wieder auftauchen lassen.
Innig ist die Beziehung zwischen ihren „Kühlein“ und den Menschen. Zwischenmenschliche Intensität erreichen die Berührungen, die der Bauer und die Bäuerin mit ihren Tieren austauschen. Um den Reiz der Tiere auch für Großstädter nachvollziehbar werden zu lassen, lässt er die Kühe von Frauen in High-Heels, Blumenkleidern mit tiefen Dekolletes mit überdimensionierter Oberweite spielen. Mit weit vorn übergebeugtem Oberkörper und auslandendem Hüftschwung staksen sie über die Bühne. An ihren Ohren baumeln als Ohrringe Kuhmarken und Hörner verzieren ihren Haarreif. Mit großen Augen neigen sie sich den Menschen zu, schrubbeln ihren Körper nah an seinen und wedeln mit ihrem geflochtenen Schwanz nach ihm. „Sie verstehen alles“, behaupten ihre Besitzer immer wieder. Auch die Paarungsrituale scheinen sich wenig von denen der Menschen zu unterscheiden. Wenn Bulle und Kuh zueinander finden, legt Hermanis ihnen schon einmal den Brautschleier an. So kommen zu den stimmungsvoll-poetischen Bildern auch überdreht-witzige, die in eine ironische Distanz gehen. Zum Schluss hängen die Kuh-Frauen ihre Nasen über Gläser mit schwarzer Milch. Bei Hermanis wird sie zu einem Symbol für Unglück und Trauer über das Verlorene. Aus Interviews mit lettischen Landbewohnern entstand dieser Abend. Hermanis fand mit seinen Schauspielern vom Jaunais Rigas Teatris eine wunderbar eindrückliche und unterhaltsame Umsetzung, die das Publikum zu begeistertem Applaus animierte.
Birgit Schmalmack vom 4.2.13


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