Irritierende Wirklichkeitsverschiebung
Eine Fliege ist die beste Freundin der Ehefrau. Ein Zimmer fliegt als Geliebter mit dem Ehemann in den Abendhimmel. Autor Gert Jonke schlägt in seiner Beobachtung von Menschen und Insekten der Realitätswahrnehmung oft ein Schnippchen.
So trägt das Zimmer hier Anzug. Zwar erinnert der blasse Mann mit seiner lindgrüner Aufmachung an alte Tapetenfarben und macht sich so unsichtbar wie ein Türpfosten, doch er wird das Geschehen noch lebensentscheidend beeinflussen. Das Zimmer wird zurzeit vom einem Ehepaar bewohnt, das mehr oder weniger unglücklich nebeneinander herlebt. Der Mann verkriecht sich am liebsten in sein Bett und die Frau wünscht sich als liebevolleres Gegenüber ein Haustier. Als ein „Pelzpunkt“ gegen die Scheibe fliegt, obwohl es schon November ist, gewähren sie der Stubenfliege Asyl und sparen sich den Gang ins Tierheim. Eine beste Freundin ist gefunden. Der kurzfristige Lebensfriede wird gestört, als der Frau immer mehr Wörter abhanden kommen. Nicht nur der Name des heimatlichen Tales ist ihr entfallen sondern auch der des Ehemannes. Doch solche Kleinigkeiten werden bald unwichtig, als das Zimmer sich gemeinsam mit dem Mann entschließt in den Himmel zu fliegen. „Ein Zimmer braucht schließlich keine Mauern, um ein Zimmer zu sein“, hat es befunden.
Wer bei Jonke stringente Handlungsstränge erwartet, wird enttäuscht werden. Wer sich allerdings in immer neue Fantasieräume entführen lassen mag, wird sich in psychologisch unterfütterten Träumen wieder finden. Regisseurin Maria Ursprung setzt noch einen oben drauf: Sie nimmt das Setting des Textes als realistische Grundkonstellation. Sie lässt in einer voll eingerichteten Wohnung mit vier Zimmern spielen. Das Publikum hat von zwei Seiten vollen Einblick, da sie ohne Wände sind. Das erhöht geschickt den irritierenden Eindruck der permanenten Wirklichkeitsverschiebung.
Oda Thormeyer zeigt eine verhuschte Frau, die auf Zehenspitzen durch die Wohnung geistert, und dennoch ihre Position unmissverständlich deutlich macht. Jörg Ostendorf sitzt ihre ständigen Bemühungen zur Intensivierung der Beziehung stoisch aus. Als Zimmer ist Julian Greis zugleich zurückhaltend und auf süffisant-ironische Art präsent. Wunderbar irritierend und verunsichernd wirkt dieser Ausflug in einen Traum, der vorgibt Realität zu sein.
Birgit Schmalmack vom 4.1.12
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