Ein Ölschinken begrenzt die Bühne auf einen schmalen Grat, der kaum Bewegungsspielraum zulässt. Nur eine Stuhlreihe wie aus einem Behördenflur bleibt für die Personen übrig. Selbst die Plätze zu wechseln wird schon zu einem Balancierakt. Allesamt sind sie in grell orangefarbige Kleidung gewandet. Mit zahlreichen Details und Verzierungen aus allen Zeiten und Epochen ist sie versehen. Alle haben zudem irgendeine körperliche Auffälligkeit, die gemeinhin entstellen würde. Ob aufgeschlagene Knie, eine dicke Brille, ausladende Hüften, Klumpfuß, lange Nasen oder fleckige Haare. So ist nicht nur der Richter von seiner dicken Wunde am Kopf und seinem dicken Fuß gezeichnet, sondern auch diese Dorfgemeinschaft, die von ihm heute Recht gesprochen haben möchte. Die Landrätin Walter, die hier bei Regisseurin Anna Lenk eine junge Frau ist, trägt einen dicken Babybauch vor sich her. Lenk lässt ihr gleichberechtigt agierendes Ensemble den Text im Original spielen, wenn auch auf 90 Minuten gekürzt. Im Versmaß reden die Dorfmenschen durchaus nicht so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, aber der Inhalt ist ganz so, wie es in Huisum üblich ist. Und die Gepflogenheiten hier sind ganz klar von Hierarchien geprägt. Es gibt ein Oben, hier verkörpert durch den Richter, der alle Fäden in der Hand hat, und ein Unten, hier verkörpert durch die Dorfgesellschaft, die versucht sich seine Gunst stets zu erhalten, weil sie weiß, dass sie von ihm abhängig ist. Obwohl die Fakten offensichtlich sind, als Witwe Marthe den Fall des Zerbrochenen Kruges aus dem Zimmer ihrer Tochter vorbringt, tun alle Anwesenden so, als sähen sie das Offensichtliche nicht. Der Täter trägt eine Wunde am Kopf, eine Perücke hängt am Spalier unter dem betreffenden Fenster und die Spuren führen direkt in das Haus des Richters. Trotzdem wird allen möglichen absurden Verdächtigungen nachgegangen, mögen sie auch noch so unwahrscheinlich sein. Der Witz am diesem Stück von Kleist ist, dass das Publikum natürlich vom ersten Augenblick weiß, wer der eigentliche Täter ist, aber alle auf der Bühne dies verleugnen. Woraus kann dann die Spannung dieser vermeintlichen Komödie generiert werden? Genauso aus diesen Verrenkungen, die so ein Machtmissbrauch mit sich bringt. Dass dieser in diesem Fall nicht nur den Krug betrifft sondern auch die zerbrochene Ehre der Tochter Eve, ist natürlich ein zusätzlicher brisanter Umstand. Lenk aktualisiert ihn nicht, sondern lässt ihn für sich sprechen. Das gelingt ihr auch dadurch, dass Eve im letzten Viertel des Stückes ihren würdigen Auftritt erhält, in dem sie den wahren Ehrverlust klarstellt. Ihr bisheriges Schweigen war keinesfalls ein Schuldeingeständnis oder fehlender Mut sondern ein Versuch, ihren Verlobten vor dem sicheren Tod zu retten. So sind am Ende wieder alle in gut und böse sortiert, die Ordnung hergestellt und die Lehren können gezogen werden. Lenk fügt noch ein kleines, aber nicht unwichtiges Detail hinzu. Der Krug war ein koloniales Raubgut und der Verlobte sollte nach der fälschlichen Ankündigung des Richters ebenfalls nach Übersee verschifft werden, um weitere Kolonialgebiete zu erobern. So erscheint auch das barocke Hintergrundsbild des holländischen Künstlers in einem neuen Licht. Auf ihm sind all die köstlichen Früchte aus dem Süden zu sehen, die aus der Ferne mitgebracht wurden, um den damals noch mit Kohl und Rüben karg ausgestatteten Esstisch eines europäischen Landes zu bereichern. Sogar ein Papagei trohnt in der Mitte. So geht es in dieser Inszenierung nicht nur um Machtmissbrauch in einem Dorf sondern auch um Ausbeutung im globalen Rahmen. Doch diese Hinweise kann man auch getrost übersehen, wenn man sich an dem handwerklich sauber gearbeiteten Abend, der als Gastspiel vom Deutschen Theater aus Berlin nach Hamburg kam, erfreut. Keiner, der einen von den Stühlen haut, aber einer, der vieles richtig macht. Birgit Schmalmack vom 25.4.24
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