Noch mehr Angst als vor dem Leben habe sie davor, mit einem anderen Menschen zu verschmelzen. Denn ihr Ich sei so unbedeutend klein, dass sie es sich nicht erlauben könne, es auch noch an einen anderen zu verlieren. Zuvor minutenlang hatten die drei Luises mitten aus dem Publikum heraus ganz offen über ihre eigene Mittelmäßigkeit, ihre Unscheinbarkeit, ihre Durchschnittlichkeit gesprochen. Dann gehen sie auf die Bühne mitten hinein in die Stationen dieses Lebens, das es eigentlich gar nicht wert sei, erzählt zu werden. Im Scheinwerferlicht stehen sie neben dem Auto, einem alten VW-Golf, der schon lange ausgemustert und fahruntauglich ist. So wie ihr Leben kaum von der Stelle kommen wird. Schon in der Grundschule Konkurrenzkampf, den sie natürlich als Unscheinbare verlieren muss. Dann die unerwiderte Liebe zum Theater, sie als Schauspielerin, mit ihrer Mittelmäßigkeit der Talente, keine Chance! Also die Stenotypistinnenausbildung. Doch selbst hier im dem durchschnittlichsten aller Frauenberufe, versagt sie. Ist sie nicht nur durchschnittlich, sondern schlichtweg überflüssig? Als eine befreundete Frau Selbstmord begeht, greift sie zum Gasschlauch. Doch als sie merkt, dass sie nun sterben wird, reißt sie das Fenster auf. Auch dies ein Scheitern oder endlich ein Aufbruch ins eigene Leben? Das bleibt zum Schluss von Bin ich ein überflüssiger Mensch? nach dem Roman von Mela Hartwig in der Inszenierung von Glen Hawkins wohltuend offen. Seine Arbeit gewann noch zusätzlich an Spannung durch die bilinguale Umsetzung mit zwei ukrainischen und einer deutschen Schauspielerin und dem damit schon inkludierten Perspektivwechsel. Wenn die ukrainischen Schauspielerinnen, die erst seit kurzem als Gaststudentinnen an der Hochschule sind, den Text auf Deutsch mit Akzent oder gar auf Ukrainisch sprechen, ist Übersetzungsarbeit zu leisten oder mit dem Nichtverstehen klarzukommen. Wie in Luises Leben auch. Die Drei sind während ihrer Spurensuche von den Zuschauer:innen umgeben. An drei Seiten sitzen sie und sehen und hören ihnen bei ihrer offensiven Seelenschau zu. Unbehaglichkeit ist vorprogrammiert. Die Luises entblößen sich, bis auf die Unterwäsche zeigen sie, wie hier eine Frau um Aufmerksamkeit ringt und dennoch darin scheitert. Hawkins und seinem tollen Ensemble gelingt es, genau diese Frau ins Rampenlicht zu stellen. Dass dieser Text dabei über 100 Jahre alt sein soll, merkt man ihm keineswegs an. In einer Zeit, wo jeder mit Posts auf facebook, instagram, tiktok und co. um Aufmerksamkeit buhlt, scheint er äußerst aktuell. Nur dass die scheinbar ganz leichte Erreichbarkeit dieser vorgegaukelten möglichen Berühmtheit das Scheitern heutzutage vielleicht noch unerträglicher macht.
Wenn Geburt und Tod sich so nahe kommen, wenn der Kreissaal und die Intensivstation so dicht zusammen rücken, hat das Leben zeitgleich auf die Go- und Stopptaste gedrückt. Für die Frau, die sich schon seitdem sie 16 ist nichts mehr gewünscht hat, als Mutter zu sein, bedeutet das: Sie liegt bewegungsunfähig auf der Intensivstation und kann keinerlei Kontakt zu ihrem Baby haben. Sie liegt abgeschottet von der Außenwelt in dem kleinen Raum mit den vielen Maschinen und Schläuchen. Wie sie sich aus diesem Raum mit Hilfe von Freunden und Familie wieder heraus gekämpft hat, davon erzählt Elena Hoof in ihrer autobiographischen Lecture Performance This Is Not a Safe Space. Sie hat sie bewusst im Unfertigen gelassen. Sie hat daraus keine Inszenierung der Perfektion gemacht. Sie liest den Text ab, sie sucht sich umständlich mit viel Knacken und Krachen immer neue Sitzplätze. Mal auf dem Ergometer, mal auf dem Bürostuhl, mal an einem Tisch, mal auf dem Fußboden. Wie sie ihren Platz für ihr neues Leben sucht, so sucht sie einen Platz für die geeignete Darstellung. Denn das Leben ist eben kein safe space. Von einem Schlag auf den nächsten kann etwas Unerwartetes passieren, das alles umkrempelt. Doch wie die Pfleger:innen, ihre Mutter, ihr Freund und ihre Freundinnen ihr immer wieder Mut geben weiterzumachen, alles neu zu lernen, davon handelt ihr berührender Bericht. Dass er gelingt, liegt auch an dem sympathischen Understatement seiner Hauptdarstellerin, die hier Regisseurin, Autorin und Performerin in Personalunion ist. Todtraurig wird er nie, denn Elena Hoof lacht gerne, auch wenn sie hier von einer Zeit erzählt, in der sie viel geweint hat. Sie ist so herrlich lakonisch, dass nie so etwas wie Pathos aufkommen kann, obwohl hier die ganz großen Themen wie Tod, Leben und Liebe verhandelt werden.
Birgit Schmalmack vom 12.6.23
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