Dschinns, Thalia

Jede Familie hat ihre eigenen Geister


Dschinns, das sind Geister. Nicht nur jeder Mensch hat seine eigenen, sondern auch jede Familie. Bei dieser türkisch-deutschen zwischen Istanbul und Berlin ist es das Schweigen. Doch das wird erst allmählich während der drei Stunden dauernden Aufführung von "Dschinns" klar. Denn alle sechs Mitglieder der Familie sollen genügend Zeit haben, ihrer ganz persönlichen Sicht auf ihr Aufwachsen und Leben in dieser ihrer Familie nachzugehen. Sofern sie denn noch leben. Denn zu Beginn steht ein Todesfall. Der Vater stirbt an einem Herzinfarkt, gerade in dem Moment, wo er in seine wohlverdiente und lang ersehnte Rente gehen kann und seine neu erworbene Wohnung in Istanbul betritt. Klassische und tragische Situation. Als Gastarbeiter aus Deutschland kommst du nur im Sarg in deine Heimatland zurück oder, wie hier, stirbst in dem Moment der Rückkehr. All die aufgesparten Sehnsüchte und die erlebten Entbehrungen rächen sich. Mit dieser Lehre beginnt das Stück und der Roman von Fatma Aydemir. Es soll nicht die einzige bleiben. Denn dieser Stoff hat es in sich.
Auf der Bühne wird das unter der Regie von Selen Kara Kapitel für Kapitel durchgespielt. Jeder und jede hat ihren oder seinen Auftritt und darf die eigene Sicht der Dinge auf die anderen und sich selbst ausbreiten. Im ersten Teil vor der Pause geschieht dies meist in bravem Rampenspiel in der Wohnzimmerkulisse, entweder der Istanbuler oder der Berliner Wohnung. Nach der Pause peppt die Regisseurin die Stilmittel auf und lässt auch das Ensemble Teile der jeweiligen Erzählungen mitgestalten. Etwa wenn Hakan, der älteste Sohn von seiner dreitägigen, rasanten Autofahrt von Deutschland nach Istanbul berichtet und aufgrund seines Fahrstils von der Polizei aufgegriffen und Opfer von behördlicher Diskriminierung wird.
Auf den 350 Seiten des Buches mag es für alle die angeschnittenen Themen der deutsch-türkischen innergenerationellen Verflechtungen genügend Platz geben, doch auf der Bühne wirkt es oft so, als wenn unbedingt alle gegenwärtigen und vergangenen Diskussionen Eingang finden sollten. Rassismus, Identität, sexuelle Orientierung, Kurden, Nationalismus, Homofeindlichkeit, Religion, kulturelle Unterdrückung, Zwangsehe, Diskriminierung, lesbische Liebe, Unterdrückung von Frauen und Mädchen, Traditionalismus, Machismo, Racial Profiling und zum Schluss taucht die in der Familie als verstorben benannte Tochter als Transmann auf der Bühne auf. In dieser Fülle wirkt der Abend auf der Bühne ein wenig überladen. Eine Konzentration auf einzelne Geister in dieser Familie hätte ihm mehr Kontur geben können. Natürlich zu Lasten der Vollständigkeit, die der Regisseurin anscheinend wichtiger war. So wird kann man ihn aufgrund seiner zugegebenermaßen vorhandenen Vielschichtigkeit loben, die genau zeigt, wie zersetzend das Schweigen in einer Familie wirkt. Und das gilt beileibe nicht nur für Gastarbeiterfamilien, in der die ältere Generation nicht mit der nachfolgenden spricht. Das gilt auch für reindeutsche Familien, wie die Bücher über die in den Nationalsozialismus verwickelten Großväter und -mütter, die mittlerweile in Mengen auf dem Markt erscheinen, beweisen. Reden über traumatische Erfahrungen gelingt wohl erst, wenn die Hauptakteure nicht mehr leben. Manchmal schon wie hier in der zweiten Generation. Denn das ist das Ermutigende dieses Stoffes: Die Orientierung der zweiten Generation zu Werten wie Selbstbestimmtheit, Offenheit und Toleranz ist offensichtlich. Diese zweite Generation beansprucht vehement ihr eigenes Leben, jenseits jeder Rassismuserfahrung in Deutschland und jeder Beschränkung durch ihre Ursprungsfamilie.
Birgit Schmalmack vom 4.11.22


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