Frauen bringen Opfer und Männer sind die Täter. Eine altbekannte Konstellation, die in der Tragödie Iphigenie von Euripides ihre perfekte Zuspitzung fand. Doch heutzutage? Wie könnte eine Iphigenie von heute aussehen? Vielleicht ein Missbrauchsopfer? Denkbar? Umsetzbar? Die Regisseurin Ewelina Marciniak nutzt mit ihrer Wunschautorin Joanna Bednarczyk die Metoo-Debatte für ihre Überschreibung des klassischen Stoffes. Iphigenia (Rosa Thormeyer) ist bei ihnen ein viel versprechendes Musiktalent. Sie wird von ihrem Vater (Sebastian Zimmler), einem Philosophieprofessor, dafür gelobt, geliebt und angetrieben. Denn sie könnte die zukünftige Pianistin von Weltruhm werden und damit das Ansehen der Familie noch weiter mehren. Doch spielt sie eventuell nur so herzergreifend, weil sie viel mehr Abgründe erlebt hat, als ihre wenigen Lebensjahre vermuten lassen? Denn sie hütet seit Jahren ein dunkles Geheimnis. Ihr Onkel interessiert sich seit frühester Jugend weniger für ihre flinken Hände auf dem Piano als vielmehr für ihre Scham. Doch der Zeitpunkt der Enthüllung kommt leider zu Unzeit: Ihr Vater veröffentlicht gerade ein Buch über das Thema Opfer und Täter und kann jetzt absolut keinen Skandal gebrauchen. Von ihrer Mutter, einer Schauspielerin (Christiane von Poelnitz), ist kein Hilfe zu erwarten. Die Tochter solle nicht so ein Gewese um den Gebrauch ihrer Scham machen und sich beizeiten daran gewöhnen, dass genau das die Rolle der Frau sei. Auch ihr Freund Achilles (Jirka Zett), ein unintellektueller Fußballspieler, ist zwar ein netter Gespiele aber kein verlässlicher Beistand. Iphigenia zerbricht daran nicht nur innerlich sondern auch gleich ihre Pianistinnenfinger. Für diesen ersten Teil findet die Regisseurin viele atmosphärisch dichte, schön verrätselte Bewegungs-Bilder, die ohne viele Worte die Stimmung der Personen erklären. Dazu gehört auch, dass Iphigenia ihr gealtertes Alter Ego (Oda Thormeyer) auf der Bühne stumm umgeistert. Eine zarte Andeutung, dass sie zwar weiterleben, aber sich nicht völlig befreien können wird. Diese um zwanzig Jahre ältere Protagonistin steht im Mittelpunkt des zweiten Teils, der allerdings weniger schlüssig gerät. Ohne Pause aber nach langwierigen Umbauarbeiten auf der offenen Bühne ist das vorherige leere Podest in ein knöcheltiefes Wasserbassin verwandelt worden. Auf einer Urlaubsinsel gestrandet trifft Iphigenia hier auf ihren Bruder Orest. Doch diesem Teil fehlt im Gegensatz zum ersten das Fleisch einer knackigen Story und seine Lücken werden mit Originalzitaten aus den Iphigenie-Texten von Euripides und Goethe und langatmigen Monologen der Personen gefüllt. So verliert die kluge Adaption einer zeitgemäßen Opfer-Tätergeschichte durch ihrer Überladung und Überinterpretation zum Ende hin ein wenig den Fokus. Weniger wäre hier mehr gewesen. Dann wäre das große Regietalent von Marciniak noch ungetrübter zur Geltung gekommen. Doch das letzte Bild versöhnt wieder: Wie zu Beginn sitzt Iphigenia am Flügel und klimpert gedankenverloren vor sich hin. Doch dieses Mal brennt dieser lichterloh. Birgit Schmalmack vom 26.9.22
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Iphigenia,Thalia Foto: Krafft Angerer
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