Formular zur Besserung ausfüllen!
"Safe Space" steht auf der Absperrung, die Liliom zum Innehalten zwingt. Er soll ein weiteres Formular ausfüllen, erklären ihm die anderen, die sich ebenfalls mit Kissen auf ein längeres Abwarten eingestellt haben. Liliom ist der Zugang zu dem Sicherheitsraum hinter der Metallwand verwehrt, denn er sich falsch verhalten. Er soll sich erst erinnern und einem Besserungsprozess unterziehen. So wird er in den folgenden Bildern mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Liliom, der im Stadtwäldchen auf dem Rummel als Ausrufer bei Frau Muskat (Oda Thormeyer) arbeitet, ist als Draufgänger bekannt. So hat er sich auch während der Karussellfahrt an Julie (Maja Schöne) herangemacht, was die eifersüchtige Chefin zum Rauswurf veranlasst. Julie ist beeindruckt und verliebt sich in den unkonventionellen Liliom. Sie finden zusammen Unterschlupf bei der Fotografin Frau Hollander (Sandra Flubacher). Doch Liliom ist zunehmend unzufrieden mit seiner Arbeitslosigkeit und fängt aus Frust an seine Freundin zu schlagen. Als Julie verkündet, dass sie ein Kind erwartet, will er ihr und den Kind endlich etwas bieten können und lässt sich mit seinem Kumpel (Tilo Werner) auf einen Raubzug ein. Er wird erwischt und bringt sich aus Verzweiflung um. Regisseur Kornél Mundruczó hat das Jüngste Gericht, das im Original bei Franz Molnár Liliom nach seiner Tat zum Nachdenken bringen soll, ins Heute verlegt. Hier begegnet Liliom nicht Polizisten und Richtern sondern heutigen bürokratischen Hürden, Selbsthilfegruppen und Anti-Gewalttrainings-AGs. Er sieht sich konfrontiert mit Aufgaben wie: "Schreibe hundertmal `Ich bin ein Vertreter des aggressiven Patriarchats`" oder "Begegne deinem Schatten und erkenne dein Fehlverhalten". Dazwischen wird er immer wieder in die Erinnerungssplitter seiner Vergangenheit zurückgeworfen und soll daran erkennen, worin seine Schuld lag. Doch genau damit tut sich Liliom schwer. Er versteht nicht, was diese genderbewussten Bildungsbürger von ihm wollen. Mundruczó beamt so den angejahrten Klassiker von 1909 gekonnt direkt in die Gegenwart. Der kleine Mann wird konfrontiert mit den Anforderungen der neuen Zeit und kommt nicht mehr mit. Er soll sich eine verschriebenen Läuterung unterziehen und versteht den Grund dafür nicht. Mundruczó stellt ihn als bodenständigen Proleten auf die Bühne, stellvertretend für manch anderen Altgestrigen, der auch heutzutage die Welt nicht mehr versteht. Jörg Pohl hat man selten so gut gesehen. Er gelingt ihm alle Aspekte seiner vielschichtigen Figur Liliom auszuloten. Er zeigt ihn als lupenreinen Macho, der sich seiner Vorrangstellung als Mann dann umso stärker bestätigen muss, je mehr sie gefährdet scheint. Doch bei Pohl ist er kein muskelbepackter Haudrauftyp sondern ein Schnacker, der sich mit seinen Sprüchen seine Unsicherheit wegreden muss. Blitzschnell wechselt er in nur einem Satz zwischen Polterigkeit und Scham. Julie ist bei Maja Schöne kein schwaches Mädchen sondern eine Frau, die genau weiß, auf welchen Typen sie sich da einlässt, und stark genug ist, ihn auszuhalten. Neben dem insgesamt hervorragenden Ensemble gibt es noch zwei Darsteller auf der Bühne, die bemerkenswert sind: Zwei Roboterarme stehen auf der Bühne, die wie von ganz oben dirigiert die Zutaten zu Lilioms Erinnerungen auf der Bühne arrangieren. Sie stellen das kleine Wäldchen mit den zahlreichen Goldregenbäumen auf, in dem Lilioms und Julie erstes Stelldichein stattfindet. Sie hängen den Mond an den Himmel, als die beiden sich auf der Parkbank näher kommen. Sie bestücken die enge Bretterbude, in der die beiden Unterschlupf finden. Sie stellen den Sarg für Liliom auf die Bühne und halten den Deckel als Ersatzhimmel fest. Sie stehen Spalier, wenn Liliom am Schluss nach 16 Jahren seiner Julie mit ihrer gemeinsamen Tochter noch einmal begegnen darf und er ihr ein Eis reicht. Ein wunderbar poetischer, toll gespielter und geschickt aktualisierter Theaterabend, der nach der Premiere bei den Salzburger Festspielen nun auch im Thalia zu sehen ist. Birgit Schmalmack vom 25.11.19
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