Leiden ist totalitär
"Ich kann mich an nichts Schönes in meiner Kindheit erinnern." Das Leiden an seiner Außenseiterposition innerhalb der engen Räume des Dorfes sei so übermächtig, dass sie alle glücklichen Momente verdrängt habe, meint Eddy. Schon früh fiel auf, dass er ein besonderer Junge ist. Was die Mutter zunächst noch mit Stolz erfüllte, wird schon bald zum Gespött in der Schule und im kleinen französischen Dorf. Hier hat ein Junge zu einem echten Kerl zu werden, sonst fällt er durchs Raster der Akzeptanz. Doch Eddy mag sich noch so bemühen den Erwartungen gerecht zu werden und sich das "Getue" seiner Gestik und die Höhe seiner Stimme abzugewöhnen - es gelingt ihm nicht. Sein Körper lässt sich nicht belügen. Eine Freundin und eine arrangierte Nacht mit einer Achtzehnjährigen machen deutlich, dass sich seine Lust nicht umerziehen lässt. Eddy flieht aus der Enge seines Milieus und trifft auf der Schauspielschule auf Jungs, die in seinem Dorf alle als schwul gegolten hätten. Die Stufen auf der Bühne deuten an: Dass die Klassengesellschaft nicht mehr existent sei, stimmt nicht. Im bildungsfernen Arbeitermilieu rekonstruieren sich alte Rollenmodelle, Vorurteile, Geschlechterstereotype auch heute immer noch von Generation zu Generation. Steffen Siegmund spielt souverän den sensiblen Jugendlichen, der mit wenigen Gesten dem Coming Out dieses Jungen Stimme und Gestalt gibt. Der Musiker Tom Gatza begleitet ihn mit zarten, rauen und aufbegehrenden Tönen auf der Gitarre und dem Klavier. Ein eindrucksvoller Abend zu dem eindrucksvollen, autobiographischen Buch von Édouard Louis, der sich von einer inszenierten Lesung im Nachtasyl zu einem kleinen Theaterabend in der Garage des Thalia in der Gaußstraße entwickelt hat.
Birgit Schmalmack vom 27.11.17
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