Willkommen in der Familieneishölle
Leise rieselt der Schnee. Er deckt alles zu. In ihm kann man sich vor der Welt verstecken. Friedlich sieht er zwar aus, doch eisig ist er. Möbel hat die Familie Borkman schon lange nicht mehr. Abgedunkelt hat sie die Fenster. Frau und Herr Borkman haben den Kontakt zur Außenwelt abgebrochen, sie gehen nicht mehr vor die Tür. Verraten und verkannt fühlen sie sich von der Welt, seit Borkman durch seinen Bankenbetrug alles Geld und jede Anerkennung in der feinen Gesellschaft verloren hat. Alle Hoffnungen sind auf die nächste Generation gesetzt, auf den Sohn Erhart (Max Rothbart). Auch die plötzlich aufgetauchte Tante Ella, der Zwillingsschwester seiner Mutter, hat Erwartungen an Erhart: Da sie sterbenskrank ist, will sie Erhart, um den sie sich an Mutters Statt sechs Jahre gekümmert hat, adoptieren. Viel zu großer Erwartungsdruck für einen jungen Mann, der eigentlich nur glücklich sein und frei leben will. Dazu hat er sich die vermögende Witwe Wilston ausgesucht und flieht mit ihr aus der Familieneishölle. Ibsen hat ein Drama der gegenseitigen Erstickungsversuche geschrieben. Simon Stone hat für seine Inszenierung am Wiener Akademietheater eine aktualisierte Überschreibung angefertigt. Die neueren technischen Entwicklungen des Netzes geben dem Verfolgungswahn von Gunhild noch mehr Nahrung. Doch Stone traut dem Text auch in anderen Hinsicht nicht ganz. Er übersteigert die Protagonisten bis ins Karikaturistische. Gunhild (Birgit Minichmayr) ist eine irre Säuferin, die mit quietschender Knarzstimme ihre Wut und Ansprüche hinausschreit. Ihr Mann Jon Borkman (Martin Wuttke) mit seinem wirren Haar und dickem Wintermantel ist selbstherrlicher, selbsternannter "Napoleon", der leider von aller Welt verkannt wird. Ella (Caroline Peters) analysiert zwar pausenlos mit schneidenden Stimme das Verhalten der Anderen, kreist aber ebenfalls nur um ihr Ego. So haben diese Charaktere wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Ihre Persönlichkeit wird schon mit dem ersten Auftritt deutlich und verändert sich über die zwei Stunden nur wenig. Zum Schluss stecken die Drei mit ihren langen Mähnen knietief im Schnee fest. Ihre Egotrips sind voll gegen die Wand gefahren. Borkman kippt um, die Schwestern ahnen: Sie haben jetzt nur noch sich. Doch da hebt der tot geglaubte Borkman die Hand zum Victoryzeichen. Jubelnder Applaus bescherte das Hamburger Publikum dem Wiener Gastspiel im Thalia Theater. Doch Ibsen braucht so viel gewollte Aktualisierung und so viel ausgestellten Wahnsinn eigentlich gar nicht, um zu einem spannenden Theaterabend zu werden. In Hamburg weiß man das spätestens seit dem „Borkman“ am Schauspielhaus, bei dem Karin Henkel 2014 eindrucksvoll bewiesen hatte, dass die stetig zunehmende Erkenntnis über die eigene Gefangenheit noch interessanter ist, wenn sie mit ein wenig Hoffnung auf Vernunft und Menschlichkeit kontrastiert wird. Birgit Schmalmack vom 19.10.17
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John Gabriel Borkman beim Theaterfestival Foto: Reinhardt Werner
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