Ich bin Europa und verwirrt
Der kleinste Staat der Welt, in dem keine Kinder und Frauen sondern nur viele Männer leben? Der einen Vorsitzenden haben, der über die Moral einer ganzen Religionsgemeinschaft bestimmt? Dessen Umgang mit Sexualität von Verleugnung gekennzeichnet ist? Von dessen Kirche jüngst publik geworden ist, dass der Missbrauch von Knaben nicht nur Einzelfälle darstellt? Vom Vatikan ist die Rede, wenn die Performer auf der Bühne sich über diese besondere institutionelle Form der Verlogenheit aufregen. Hat dieser Papst noch etwas mit mir zu tun? Das fragen sich die sechs Performer. Nur Steffen (Steffen Link) kann das nicht ganz abstreiten, ist er doch in einer freikirchlichen Jungendorganisation aufgewachsen und hört heute noch in seinem Kopf beim Anstehen bei Aldi oder beim Sex Lieder aus dem Kindergesangbuch. Doch die anderen haben eher eine anti-christliche Nichtbeziehung zu diesem kirchlichen Oberhaupt, da seine Organisation sie ablehnt. Denn die Männer unter ihnen interessieren sich für Männer und können sich wenig für jemanden erwärmen, der ihre Orientierung als Todsünde einordnet. So weit zu den katholischen Werten dieser Gesellschaft. Doch es gibt viele weitere Fragen zu klären: Was ist ein Mann? Was möchtest du deiner Mutter sagen? Wie stellst du dir eine Beziehung vor? Wie war deine Beziehung zu deinem Vater? Hast du etwas zu beichten? Die ostdeutsche Schauspielerin fungierte als Moderatorin, die Fragen stellt. Und wie sieht es mit den weiteren Aspekten des Zusammenlebens in Europa aus? Dazu positionieren sich die Performer vor dem transparenten Vorhang direkt vor dem Publikum und lassen ihre Suada der verwirrten Europäer los. "Ich bin der erste Weltkrieg, ich bin der zweite Weltkrieg, ich bin der Kolonialherr, ich bin das zerrissene Österreich, ich bin derjenige, der Flüchtlingsheime anzündet, ich will sachsen-anhaltinische Frauen für sachsen-anhaltinische Männer...." So geht es minutenlang, bis einer von ihnen "Ein bisschen Frieden" anstimmt. Das wäre es doch: Ein Song-Contest im Vatikanstaat und dann als sexy Boy-Group auftreten! Rote T-Shirts überstreifen und schon kann die laszive Showeinlage starten. Der Abend endet mit einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Einer der Performer trägt seinen Brief an sein Kind vor, das in Planung ist. Es wird zwei Daddys und eine Mutter haben. Es wird in eine multikulturelle, multinationale, multireligiöse und multilinguale Welt hineingeboren werden und dürfte sogar Banker werden, wenn es dies dann wollte. In diesem Projekt von Falk Richter und Nir de Volff wechseln selbstvergessene Tanzszenen mit Selbstbefragungen, mit gesellschaftskritischen Zustandsbeschreibungen und vielen persönlichen Erzählungen. Letzteres ist ungewöhnlich für ihre Zusammenarbeit. Doch macht es diesen Abend besonders sympathisch. Er rückt dadurch sehr nahe und das ist bei diesem Themenvielfalt, die zum Abschweifen neigt, sehr förderlich, um an ihm Gefallen zu finden. Birgit Schmalmack vom 7.2.17
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