„Knie nieder vor dem Herrn, Bitch“, steht in großen Lettern über der rotgolden schimmernden Fassade, die an den abgerissenen Palast der Republik erinnert. Die Inschrift ist eine Replik an den Schriftzug, der an der Kuppel des neu erbauten Berliner Schlosses auf der anderen Seite der Straße "Unter den Linden" prangt. Dazu tönt es aus den Lautsprechern: „Auferstanden aus Ruinen, einig deutsches Vaterland!“ Ein bombastischer Einstieg in einen Abend, in dem es im Folgenden jedoch weniger um die großen gesellschaftlichen Entwürfe eines anderen Deutschlands geht als vielmehr um die Befindlichkeiten des Theaters. Nämlich um die Frage, wie relevant Theater in diesen Zeiten noch sein kann. Noch genauer: Inwieweit auch ein Staatstheater wie das Gorki an seine Grenzen kommt, wenn es darum geht, Dinge in Frage zu stellen, die es selbst repräsentiert. Also durchaus bedeutende Fragen, zumindest für die Theaterbegeisterten und ganz besonders für die Gorki-Community. Doch Regisseur Ersan Mondtag wählt für ihre Verhandlung eine eher kleine Form inmitten einer großen Kulisse. In einer Art Nummern-Revue werden die vier Darsteller:innen dazu einzeln auf die Drehbühne zwischen Pfauenfedern, Palmen, Herrscherthron auf der einen Seite und Madonna-Altar auf der anderen (Bühne: Nina Peller) gerufen. Von einer weiblichen anonymen Stimme aus dem Off (Melanie Jame Wolf), die sie befragt, anleitet, drängt, bewertet und drangsaliert. „Eine eiserne Faust in Samthandschuhe“, so wird sie sich später selbst charakterisieren. Eine durchaus selbstkritische Note in Sachen Machtmissbrauch von Regisseur:innen. Als erste erzählt Kate Strong von ihrem Scheitern auf der Bühne. Als junge Ballettelevin stürzte sie bei ihrem ersten großen Auftritt. Den anschließenden Muttermord zelebriert sie in Tarantino-Manier. Die Stimme ist angetan von so viel Ehrlichkeit und Dramatik auf der Bühne. Die Latte ist hochgelegt für Orit Nahmias, die zweite in der Reihe. Doch sie muss passen: In den sieben Gorki-Jahren hätte sie leider schon alles aus ihrem Leben ausgeschlachtet. „Aber Biographisches füllt die Ränge“, beharrt die Regie und schlägt Recycling vor. Auch das hätte sie schon mehrfach getan, entgegnet Orit. Die Gorki-Community weiß genau, was sie meint. Speziell in den Stücken von Yael Ronen war und ist Orit stets eine Schauspielerin, die für die gewünschte Authentizität sorgt. Die Dritte auf der Bühne sollte Çiğdem Teke sein. Doch als sie auftritt, verrät die Regiestimme: Deine Szene wurde gestrichen. Doch die Darstellerin bleibt und gibt alles. Eigentlich wollte sie nur von ihrem Kinderwunsch erzählen. Zu normal für eine junge Frau in einer Großstadt. Also würzt sie ihre Geschichte mit einem Medea ähnlichen Ende: Um ihre Kinder vor der grausamen Welt zu schützen, versetzt sie sie in ewigen Schlaf. Denn sie weiß: Wünschen wir uns nicht alle die Apokalypse? Wissen wir nicht alle, dass die Rückkehr zur Normalität das eigentliche Problem wäre? Eine Frage auch an alle, die an diesem Premierenabend wieder ins Theater gepilgert sind, um genau diese Rückkehr zu feiern. Dann betritt der einzige Darsteller mit einem männlichen Namen die Bühne. Doch Benny Claessens steht völlig außer Verdacht, ein alter, weißer Cis-Mann zu sein Ab sofort schweigt die Regie-Stimme und überlässt ihm die Bühne. So darf sich seine schillernde Persönlichkeit unkommentiert auf der Bühne ausbreiten, am Klavier seine Songs spielen, seine Texte lesen, sich selbst analysieren, in seinem Egotrip baden und die Zuschauer:innen je nach Perspektive und Geschmack amüsieren oder nerven. Auch das natürlich beabsichtigt. Wie weit kann man es mit der scheinbar endlosen Selbstdarstellung und Selbstbeschau treiben, bis inhaltlich oder unterhaltungstechnisch nichts mehr herauskommt? Das weiß das Publikum nach über einer Stunde Benny pur aus eigener Erfahrung. „It's going to get worse“ (Alles wird immer schlimmer), so der Titel des Abends. Sollte er etwa auch für die Abfolge der Acts passen? Denn nach Bennys Auftritt mündet er zur End-Musik von Titanic in den Untergang zumindest dieser kleinen Welt. Das Theaterschiff bricht entzwei, geht in Flammen auf und geht unter. Bei der ersten Umdrehung der Drehbühne halten die Vier noch tapfer die Stellung, mit dem Cello des Titanic-Tanzorchesters neben sich auf der Showbühne. Doch bei der nächsten sind auch sie verschwunden. Davongemacht oder untergegangen? So wurde die erste Premiere zur Wiedereröffnung nach dem Shutdown im Gorki zu einer selbstironischen Hinterfragung der eigenen Bedeutung. Der anschließende Sekt bei der Premierenfeier im Garten schmeckte trotzdem. Birgit Schmalmack vom 10.6.21
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