10 Jahre ist es her, dass das Circus Festival als kleines Event noch auf dem Gelände der Berliner Schatzinsel startete. Heute spricht sogar die Kulturstaatsministerin ein Grußwort auf der Videoleinwand. Was noch wichtiger ist: Die Finanzierung steht auf solideren Füßen, da die Unterstützung durch den Kultursenat mittlerweile gesichert ist. So können elf Tage voller Programm starten. Mit einem Eröffnungsabend mit viel Glitzer, Torte und Sekt startete es am Mittwoch. Einzelne Showacts in den drei Zelten und auf der Openair-Bühne machten als kleine Appetithäppchen Lust auf mehr. Weiter ging es am Donnerstag mit dem ersten vollen Tages- und Abendprogramm. Das Ensemble feiert draußen auf der Openair- Bühne mit „Not today“ zunächst die Freude des Überlebens bei ihrer energiegeladene Show. Als Trapezkünstler:innen über ihrem aufblasbaren Sicherheitsbett freuten sie sich jedes Mal unbändig, wenn sie wieder einen Trick überlebt hatten. Das war Überlebensfreude pur gegen die Angst des Risikos. Wie alte Showpferde, die in die Arena geschickt werden fühlen die drei Frauen bei dem anschließenden Act im kleinen Zelt sich immer öfter. Denn sie haben das Haltbarkeitsdatum für Artistinnen schon überschritten. Lena ist zwar mit 39 noch knapp unter der Schallgrenze, aber die beiden anderen mit 45 und 50 sind für Circus-Verhältnisse schon fast scheintot. Zeit also für die Gruppe „Still hungry“ sich über diesen sehr besonderen Beruf Gedanken zu machen. Da seien zum ersten die vielen Regeln, die dieser speziell für Frauen bereit hält. Sei jung, sei schwerelos, sei dramatisch, aber nie im Privaten und…und… Als sie bei der zehnten angekommen sind, hören sie auf, sie zu verschriftlichen. Alle am einem Abend zu nennen, würde den Rahmen sprengen. Erstaunlich dass sie bei der Vielzahl der Regeln ausgerechnet der Wunsch nach Freiheit zum Circus gebracht hat. Jede von ihnen suchte in der Welt des Zirkus ein Leben jenseits der Spiessigkeiten einer bürgerlichen Existenz, die sie aus ihren Elternhäusern kannten. So wurde aus dem kleinen blonden Clown Anke ein Mitglied des Cirque de Soleil. Aus der Turmspringerin Romi ein Mitglied eines großen Zirkusteams, das um die ganze Welt tourte und in luxuriösen Hotels logierte und aus der Kinderzirkus-Akrobatin Lena eine gefeierte Verbiegerin. Doch bei diesem Frauen-Trio bleibt es nicht bei der Theorie. Denn schließlich stehen hier drei Artistinnen auf der Bühne. Also führen sie stets praktisch an den Strapaten, am Vertikalseil und als Kortorsionistin vor, was diese Regeln für sie bedeuten. Wenn sich Anke zum Beispiel wie in ihrer Jugend zu Depeche Mode am Boden unermüdlich dreht, erkennt man klar die stringente Linie zu ihrem späteren Drehen in der Luft an den Strapaten. Eigentlich erfüllen die drei Frauen alle ihre selbst aufgestellten Regeln noch immer in Perfektion. Doch davon bekommt man bei den kurzen Kostproben ihres Könnens nur eine leise Ahnung. Denn sie deuten sie in dieser Arbeit nur dezent an. Gerade darin liegt auch der Charme dieser Auseinandersetzung mit dem gefürchteten Schwinden von Fähigkeiten. Wenn der gewählte Beruf den perfekten Einsatz des eigenen Körpers erfordert, stellt sich die Frage der Endlichkeit eben viel schneller als in anderen. So sprechen sie über ihre Ängste, ihre Befürchtungen, ihre Wünsche, ihre Fantasien und ihre möglichen Zukünfte. Die eine erträumt sich eine Zeit als glamourösen Diven mit vielen Verehrern, die andere eine Dreier-WG am Meer und die letzte eine gemeinsame Zeit in einem Pflegeheim, in dem immer am Donnerstag die Glitzerleggings rausgeholt werden und sie den anderen zeigen können, was sie immer noch draufhaben. Mit viel Mut zur Selbstironie, mit großer Offenheit und mit liebevoller Ehrlichkeit untereinander, zum Publikum und zu sich selbst wurde daraus eine rundum überzeugende Arbeit des Artistinnen-Kollektivs, die hinter die Kulissen des Artistenlebens blicken lässt. Die drei Frauen spannen in ihr so viele Meta-Ebenen mit ein, dass man in ihr von einer Erkenntnis zur nächsten befördert wird. Man lernt nicht nur etwas über das Zirkusleben sondern über das Leben an sich, über das Schwinden, über das Loslassen und über das Verabschieden. So lehrt einen der Zirkus das Leben, zumindest wenn er von so kompetenten Expertinnen für die nicht Zirkuserfahrenen übersetzt wird. Es gelingt auch deswegen, weil die Drei es nicht nur verstehen, ihr eigenes Erleben auf eine höhere Ebene zu transferieren, sondern auch auf der Bühne Beispiele, Bilder, Szenen und Übungen dafür zu finden, die das Erzählte bestens verdeutlichen. Das liegt natürlich auch daran, dass die drei so ehrlich, offen, authentisch und unprätentiös agieren. Standings Ovation am Schluss ist die Reaktion des völlig begeisterten Publikums.
Damit steht diese Arbeit zunächst im ziemlichen Kontrast zu dem letzten Stück an diesem Donnerstag. House of Circus lädt ein zu einem „Carnevale Royale“. Nick van der Heyden annonciert mit riesigen Ballonbusen, die wunderschön wippen können, wenn er es darauf anlegt, eine queere Circus Show. Sie solle die Gemeinschaft in der Unterschiedlichkeit feiern. Die folgendeRevueder verschiedensten Künstlerpersönlichkeiten solle zu einer Feier der Vielfalt werden. So das selbst erklärte Ziel. Doch so viel sei verraten: Eine Drag-Show wird das hier nicht. Das wird klar, nachdem die ersten Artistinnen aufgetreten sind. Die Vertikalartistin, die Schwertschluckerin, der Hulahop-Reifen-Jongleur, die Pole-Dancerin und die Playback-Sängerin bilden eher eine abwechslungsreiche Mischung einer üblichen Varieté Show. Ohne Zweifel sind die Showacts alle von hoher Qualität und die Kostüme der Moderatorin Nick van der Heyden und ihrer Assistentin Germain Charlat natürlich spektakulär, doch der queere Aspekt bleibt dezent im Hintergrund. Da wirkt auch das Quiz in der Mitte, das sich mit lauter Fragen zur Homosexualität beschäftigt, nur bedingt, um die Querness in den Mittelpunkt zu rücken. Die Quizfragen mit launiger Publikumsbeteiligung drehen sich zwar um queere Fernsehshows, um die Todesstrafe für Homosexuelle, Namen von Dragkünstler:innen und vieles mehr, aber bleiben letztendlich ein gut gemeintes, eher edukativ wirkendes Intermezzo vor der letzten Hälfte. Zum Schluss bleiben drei Zuschauer:innen übrig, die in der Entausscheidung einen Orgasmus stimmlich interpretieren dürfen. Die lauteste von ihnen gewinnt erwartbar den Preis. Stellte die Arbeit von Still Hungry die Rollenklischees im Zirkusgeschäft ganz dezidiert in Frage, so könnte das in einer nicht nur auf das Amüsement zielenden Drag-Show eigentlich im Hintergrund mitlaufen. Das bleibt hier aber fragwürdig, wenn z.B. die Tänzerin an der Pole-Stange ihre Rolle der allzeit bereiten zündenden Frau über Gebühr bedient. Während sie ihre Erotik in jeder Hinsicht in die Höhe treibt, so bleibt die Ebene der selbstreflexiven Hinterfragung unsichtbar. So vergisst man beim königlichen Karneval das Motto am besten schnell und erfreut sich wie das restliche Publikum an den Attraktionen, die die Artist:innen auf der Bühne zu bieten haben, und hat einfach Spaß. Jubelnder Applaus war ihnen am Ende auf jeden Fall gewiss. Birgit Schmalmack vom 10.8.24
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Carnevale Royale Circus Festival Berlin
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