Das Circus Festival Berlin zeigt Zirkus-Artist:innen; wie man sie bisher kaum gesehen hat. Wer herkömmliche Manegennummern erwartet, ist hier verkehrt. Wer dagegen spannende Kreationen - ohne Grenzziehungen zwischen Tanz, Performance und Artistik - von jungen Künstler:innen aus aller Weilt sehen möchte, ist hier genau richtig. Dabei hat man in dem vielfältigen Programm die Wahl zwischen so verschiedenen Formaten wie „Work in Progress“-Aufführungen mit anschließendem Feedback an die Künstlerinnen, abendfüllenden Shows und den „Kurzstücken“. Letztere beide in dem großen Zirkuszelt und ersteres in dem kleineren auf dem Tempelhofer Feld. Bei den beiden „Work in Progress“-Stücken war die Überraschung Teil der Inszenierung. In konstrukt von Dora Komenda geht es um das Scheitern und das in einem Kunstfeld, in dem die akrobatische Leistung im Mittelpunkt steht. Für jede der drei Arial-Artistinnen, die hier in der Mitte über dem Schaumstoffkissen ihre akrobatischen Übungen vorführt, ist der Misserfolg schon bald unvermeidbar, denn ihr Equipement weißt Fehler auf. Bei der Künstlerin, die an einem Bündel Seile in die Höhe klettern will, lösen sich immer mehr von ihnen aus der Deckenaufhängung. Dennoch versucht sie immer verzweifelter und damit auch aussichtsloser ihrem gesetzten Ziel näher zu kommen. Scheitern vorprogrammiert. Frustration, Enttäuschung, dann Einsicht. So definiert sie den Berg an herab gerutschten Seilen zum Kissen um und bettet ihren Kopf darauf. Die zweite bemüht sich, sich an einem Reck in der Höhe zu halten, doch auch dieses hat einen konstruktiven Fehler: Die Stange rutscht vorhersehbar immer wieder aus der Schlaufe und sie landet in der Tiefe. Die letzte Arial-Artistin hat ihr Tuch selbst mitgebracht, doch als sie sich hochziehen will, bemerkt sie, dass das eine Ende immer kürzer wird, je weiter sie sich nach oben bewegt. Irgendwann ist klar: Gleich wird der letzte Zipfel durchgerutscht sein. Bewusst ihr Schicksal akzeptierend nimmt sie das Unweigerliche in Kauf. Der zweite „Work in Progress“ fora von Alice Rende besteht aus zwei Teilen. Das Video zeigt die Vorgeschichte. Alice befindet sich in einem engen vier Meter hohen Glaskasten. Ihr Bewegungsraum ist begrenzt. Der Kasten ist zugleich ihr Gefängnis und ihr Schutzraum, der ihr Halt gibt. Das wird klar, als sie im zweiten Teil auf die Bühne plumpst: Nun hat sie ihre Freiheit, doch ihre Führungsschienen verloren. Mühsam versucht sie das Leben und das Bewegen in Freiheit ohne Stützen zu erlernen. Sie ahmt ihre Bewegungen, die sie in ihrem Gefängnis zum Überleben brauchte, nach, doch in der Freiheit helfen sie ihr nicht. Bis sie in die Aufrechte kommt, dauert es. Ein spannender mühsamer Prozess, der Lust auf die gesamte Performance macht. Tragt dieses Bild raus in die Welt, zeigt es den Zynikern, die behaupten, die Welt sei angesichts der vielen Herausforderungen nicht mehr zu retten. Dazu ist Monki aus den Niederlanden in 60% Banana über die Bühne gekraxelt, ins Schwitzen geraten, hat sich verrenkt, hat sich gefährdet, hat balanciert, sich über Kopf an die Reckstange gehängt und hat keine Mühen gescheut, um an den drei Stangen, die sich senkrecht auf der Bühne in die Höhe recken, seine Graphen zu zeichnen. Mit flexiblen verschieden farbigen Bändern, die er stets an die statistisch korrekte Position zwischen die drei Stangen spannt. Als Fixpunkt hat er die drei Jahre 1950, 1988 (sein Geburtsjahr) und 2023 genommen. Nun beweist er mit vielen Zahlen, dass die Armut, die Sterblichkeit und die Kriegstotenzahl gefallen und die Bildung, die Lebenserwartung und die::: gestiegen sind. Und das bei stets zunehmender Weltbevölkerung. Wenn er zum Schluss mit drei Zuschauer:innen die Weiterentwicklung in der Zukunft in die Lüfte malt, wirft er die Bänder für die zusätzlichen Herausforderungen über die Linien. Doch sollten wir diese nicht auch bewältigen können, wenn die gerade demonstrierten Erfolge schon geschafft worden sind? Ein überaus sympathisches Postulat für die Menschlichkeit und ihre Möglichkeiten.
In dem zweiten Kurzstück des Abends ways of being ready erkunden die beiden Performer unter der Regie von Hendrik van Maele aus den Niederlanden ihr Einfühlungsvermögen, ihre Spontaneität und ihr Bereitsein. Sie setzen sich dabei wagemutig dem Risiko des ständigen Scheiterns aus. Sie versuchen vorherzusehen, was der andere jeweils macht und genau in dieser Sekunde darauf zu reagieren. Das klappt manchmal, manchmal auch nicht. Wenn sie versuchen den Tennisball, den der andere wirft, mit geschlossenen Augen zu fangen. Wenn sie probieren, dem schnellenden Gummiband, das beide in den Händen halten, kurz vorm Abrutschen zu entkommen. Wenn sie versuchen, das Messer zu fangen, dass der andere über dem Kopf des anderen fallen lässt. Oder die zwei Stühle, die beide mit Gummibändern verspannt sind, genau in dem Moment zu wechseln, so dass sie nicht auf den Boden knallen. Die Überraschung, die Intuition, das Risiko ist Teil der Show. Eingeführt in das Thema wird man durch einen Tanz der Beiden zu Beginn. Hier entscheidet sich durch eine Handbewegung, wer der Führende und wer der Geführte ist. Der eine übernimmt die Leitung und der andere muss sich komplett seiner Führung und Manipulation überlassen. Zum Schluss werden die Rollen getauscht. Der Mut dieser Performer zum Scheitern verdient genau den Respekt und Applaus, der zum Schluss durchs Zelt wogte. Birgit Schmalmack vom 17.8.23
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