Ein gefallener Engel mit zerfledderten Flügeln sitzt auf einem Podest. Rechts und links neben ihm erzählen zwei Projektionsflächen wie in einem Triptychon von seiner Vorgeschichte. Die Katastrophe liegt hinter ihm, doch er hat sich entschlossen nach vorne zu blicken. Die schreckliche Vergangenheit will er abstreifen und stattdessen in die Zukunft blicken. Dazu lädt er die Zuschauer:innen auf dem Tempelhofer Feld ebenfalls ein. So schreiten sie unter seinem erhöhten Sitzplatz hindurch und betreten ein Labyrinth aus Teelichtern. 3500 echte, analoge Kerzen wurden angezündet und weisen nun den Besuchenden ihren Weg. Sie werden sich an sieben Stationen niederlassen und Figuren begegnen, die alle einer anderen Illusion hinterher träumen. Sie konnten einmal fliegen, davon zeugen die beiden roten Wundmale auf ihren Rücken. Da sie aber ihre Flügel verloren haben, sind sie nun gefangen. Vermeintliche Abkürzungen durch die Kerzenwege zu nehmen, ist nicht zu empfehlen, auch wenn viele wie Umwege erscheinen. Sonst brächte man sich um die Freude über manche Fundstücke am Wegesrand, die auch außerhalb der Performance-Stationen für kleine Entdeckungen sorgen. Eine Ansammlung von Koffern, von denen einzelne den Besuchenden in die Hände gedrückt werden, ein altes Telefon auf einer Sammlung aus Antiquitäten oder kleine Botschaften auf Papiertüten, die auf Holzkisten stehen und die von kleinen Leuchten erhellt werden. Die erste Begegnung führt zu einem Königssohn, der sich vor der Verantwortung, die ihm bevorsteht, fürchtet. Er ist an einen schweren Koffer gekettet. In ihm befindet sich die Krone. Als er sie sich endlich aufsetzt, bemerkt er, dass er nun die schwere Bürde des Koffers los ist, doch muss feststellen, dass er jetzt an die Krone gebunden ist. Da vergräbt er lieber die Krone im Koffer. Er fürchtet die Verantwortung mehr als die Unfreiheit. Die Frau an der nächsten Station, die in den Spiegel blickt, hofft auf die Errettung durch einen Mann, der sie liebt. Durch die Liebe werde sie endlich Erlösung finden. Sie fordert einen Zuschauer auf, sich zu ihr zu gesellen. Über einen Spiegel traut sie sich mit ihm zu kommunizieren. Doch er ist bleibt nur gespiegelt durch ihre Vorstellung, ein echter Austausch findet nicht statt. Sie bleibt allein und in ihrer Opferrolle gefangen. Der nächste Mann braucht dringend kundige Wegweiser. Kennen Sie den Weg? fragt er jeden, der bei ihm vorbei kommt. Er würde so gerne in das Land reisen, in dem die Menschen das Fliegen gelernt haben. Doch er kennt den Weg nicht, so bleibt er ein Träumer, der nicht weiter kommt . Die nächste Frau ist Isa. Sie übt mit akrobatischen Verrenkungen auf ihrer Klappleiter das Fliegen. Doch der Absturz ist vorprogrammiert. Mit ihren Daunenfedern und den Holzstreben wird sie nie aufsteigen, so sehr sie sich auch abmüht. Die nächste Station wirkt auf den ersten Blick sehr romantisch. Eine Frau sitzt an einem See und bewegt ihre Arme in anmutigen zarten Kreisen. Während sie in sich ruhend von der Suche nach ihrer Mitte berichtet, schickt sie Eier über den kleinen See auf Reisen. Per Seilwinde erreichen sie auf ihren kleinen Booten einen der Zuschauenden. Sie sind mit handgeschriebenen Botschaften verziert. Wie zum Beispiel: „Mache etwas aus dem, was dir gegeben ist.“ Sie dagegen bleibt unbeweglich zurück. An der letzten Station begegnen die Reisenden einer Frau, die alleine in ihrer Kammer feststeckt, nur eine Puppe ist ihr als Gefährtin geblieben. Ins Dunkle hinauswagen, das traut sie sich nicht. Und ihre Taschenlampe hat keine Batteriekapazität mehr. Als sie kurzerhand zur Stehlampe greift, muss sie feststellen, dass ihr Aktionsraum auf die Länge der Schnur begrenzt bleiben wird. So schreckt sie schnell wieder zurück, kuschelt sich wieder an ihre Puppe und bleibt in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen. Der Auftrag für die Besuchenden, die das Anu Theater auf diese "Große Reise" geschickt hat, scheint klar: Sie sollen das versuchen, zu dem diese Engel, die ihre Flügel verloren haben, nicht mehr fähig sind. Sie sollen ihre Talente entfalten, ihre Träume verwirklichen, Wagnisse eingehen, das Scheitern als Chance zur Weiterentwicklung begreifen und sich aufmachen. Ein sehr besinnlicher, melancholischer und poetischer Abend ist diese Arbeit des Anu Theaters, der man ihr Alter von nunmehr 17 Jahren nicht anmerkt. Das liegt nicht nur daran, dass Theaterleiter Stefan Behr das Stück um die neu gestaltete Eingangssequenz und zahlreiche Texte erweitert hat, sondern auch daran, dass es einen perfekten Kontrapunkt zur noch weiter beschleunigten Tempo- und Effizienzsteigerung des heutigen Lebens setzt. Oder wie Behr dazu bemerkt: „Die Leute kommen wesentlich langsamer heraus, als sie hineingegangen sind."
Birgit Schmalmack vom 1.8.24
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Die Große Reise Theater Anu
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