Alles so schön weich hier
Sie haben sich gemütlich eingerichtet in ihrer Höhle am Rand der Gesellschaft. Wie mit den Plattenbausteinen einer Sozialbausiedlung ist ihre Wohnhöhle (Bühne: Florian Lösche) aufgetürmt. Doch statt aus Beton sind sie aus Schaumstoff. Die Bewohner nutzen sie zum flexiblen Herumhüpfen auf den Gegebenheiten. Sie gleiten, flitzen und springen über die Schaumstoffblöcke, in denen andere nur versinken würden. Gerade der unsichere Boden gibt Stella (Patrycia Ziolkowska) und ihrem Mann Stanley (Sebastian Zimmler) den Halt für ihr prekäres Leben. Doch dann kommt Stellas Schwester Blanche (Karin Neuhäuser) zu Besuch. Sie fährt mit der Straßenbahn bis zur Endstation mit dem Namen "Desire", Sehnsucht. Sie kann hier nur Abschaum, Asoziale und Armseligkeit sehen. Dabei ist sie selbst total am Ende, komplett verarmt, ihr Landsitz gepfändet, ihre Stellung als Lehrerin gekündigt, kriecht sie bei Stella unter. Sie klammert sich an ihren Rest Selbstbewusstsein, der bei ihr aber nur noch aus dem Dünkel einer vermeintlichen Überlegenheit besteht. Sie wähnt sich weit über diesen Endstation-Bewohnern und ahnt doch, dass sie längst mit ihnen auf einer Stufe steht. Doch während diese sich hier mit ihrer Situation angefreundet haben und das Beste aus ihrem Leben machen, will Blanche nur raus hier. Während die anderen locker über den Schaumstoff hüpfen, versinkt sie in ihm. Sie stolpert mit ihren hochhackigen Schuhe über jede Stufe und bewegt sich mühsam von einem Raum in den nächsten. Sie verstrickt sich in immer neue Lügengeschichten, die sich selbst nur zu gerne glauben möchte. Sie kleidet sich und in ihr Leben in glitzernde Divenkostüme, die sie aus ihrer Reisetasche zieht. Stella dagegen hat sich in ihrem RTL-Leben eingerichtet. Wie aus einem Youtube-Video entsprungen spielt sie das rosarote Girlie, dem das Lachen mit der Schminke ins Gesicht gemalt ist. Sie ist verrückt nach diesem bodenständigen Stanley und will genau diesen Soundtrack zu ihrem Leben haben. Diese Wohnung bietet keinen Rückzugsraum. Überall kriechen plötzlich Köpfe, Arme und Körper aus den Ritzen und Wänden hervor und platzen mitten in das Apartment von Stella und Stanley. Plötzlich nimmt die nächtliche Pokerrunde mit Stanleys Freunden Beschlag von der Wohnung. Einer seiner Freunde sorgt mit dem Schlagzeug für unüberhörbare Präsenz. Blanche ist gewohnt nach Männern Ausschau zu halten. Nur Männer können eine Frau retten, davon ist sie überzeugt. Doch wie lange wird diese Strategie noch funktionieren? Ihr fortgeschrittenes Alter führt ihr eine klare Deadline vor Augen. Stanleys gutgläubiger Kumpel Mitch (Stephan Bissmeier) kommt ihr da gerade recht. Das überalterte Muttersöhnchen ist so einsam und bedürftig wie sie. Doch da hat sie Stanley unterschätzt. Das Bühnenbild ist das Kernstück dieser Inszenierung. Mit ihm eröffnet sich ein großer Assoziationsraum, der die Figuren in verändertem Licht sehen lässt. Dass Regisseur Lars-Ole Walburg Karin Neuhäuser als wesentlich ältere Schwester besetzt hat, macht ihre Endzeit-Ängste noch existenzieller. Eine stringente, vielschichtige und spannende Arbeit hat Walburg mit dieser "Endstation Sehnsucht" am Thalia auf die Bühne gebracht. Birgit Schmalmack vom 23.5.16
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