Wound

Wound
Die Stimme des Unterbewussten
Toula Limnaios bewegt sich mit ihrem Stück „Wound“ an der Grenze zwischen Wachen und Träumen, zwischen den Unterbewussten und dem Bewussten. Nur mühsam zuortbar, kaum verständlich und scheinbar ohne sichtbaren Grund tauchen Bruchstücke aus der Vergangenheit aus einem unbewussten Erfahrungsreservoir auf. Stehen ohne Zusammenhang nebeneinander und fordern ihre Aufmerksamkeit. Sie kommen in Alpträumen oder in schlagartigen Erinnerungsfetzen an die Oberfläche.
Die Altlasten legen sich wie kleine Päckchen auf den Kopf der Tänzerin und hindern sie in ihrer Bewegungsfreiheit. Sie kann in ihrer Erstarrung nur noch von ihrem Partner getragen werden. Erst als sie riskiert, dass die Päckchen herunterfallen, kann sie sich tänzerisch der Aufarbeitung widmen.
Auf der Bühne in der Halle entfalten die sechs Ensemble-Mitglieder ein Erinnerungstableau der Gleichzeitigkeit. Erinnerungsschicht um Erinnerungsschicht wird freigelegt. Der Flügelschlag der Vergangenheit knallt wie ein Peitschenhieb, wenn die Tänzer mit ihren Lederjacken direkt unter den Mikrophonen hochspringen. Ein Tänzer umfasst eine Frau an der Gurgel und zwingt sie so zu seinem Tanz. Mit hängendem Kopf bleibt ihr nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Eine andere Tänzerin hält den Mann unter ihr auf den Boden fest, indem sie mit hochhakigen Schuhen sie auf seinem bloßen Körper. Eine Vierergruppe versucht einen gemeinsamen Standpunkt zu finden. Doch so labil wie die Momente der Balance im Leben sind, sind auch ihre Positionen des Gleichgewichts. Durch gegenseitiges Ziehen und Drücken bauen sie eine auf, um kurz darauf abzurutschen und eine neue auszutarieren.
Eine andere Frau versucht auf ihrem aufrecht stehenden Partner Halt zu finden. Immer wieder springt sie an ihm hoch und rutscht doch ab.
An ihrer Lederjacke packen zwei Männer eine Frau und schleudern sie wie ein wehrloses Bündel herum.
Limnaios ist eine Meisterin der Übersetzung von Gefühlen in Tanzbilder. Besonders die Zuspitzung und Analyse von Beziehungsstrukturen gelingen ihr verblüffend und scharfsichtig. Wound setzt sie vor eine Filmleinwand. Auf ihr sind zunächst schwarz-weiße Filmausschnitte zu sehen. Zum Schluss werden die Bilder farbig: Bücher und Kühlschrankinhalte fliegen durch die Luft. Die Choreographin verlässt sich auf dem schwarz-weißen Bühnenboden ganz auf ihre Tanzsprache. Zu Recht, denn Wounds Bilder bleiben im Gedächtnis haften und tauchen – passend zum Stück – erst nach und nach aus der Erinnerung auf und entfalten ihre ganze Wirkung.
Birgit Schmalmack vom 16.8.10


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