Kurzkritiken zu Weideraufnahmen

Kurzkritiken zu Weideraufnahmen


Thalia

Andersen – Trip zwischen den Welten
Skurril überzeichneter Existenzialismus
Andersens Märchen "Vom Schatten" wird unter Regie von Stefan Pucher in Zusammenarbeit mit dem Musiker Carsten "Erobique" Meyer zu einem auf der Bühne visualisierten Alptraum. Während sich in dem farblosen 2D-Bild die Personen aus Andersens Märchen tummeln, spielen sich auf der hinteren Bühnenleinwand häusliche Katastrophen ab. Durch geöffnete Wandflächen in der weißen, unschuldigen Reliefwand wird die Sicht auf schlaflose Menschen möglich (Video: Meika Dressenkamp). Erleuchtete Fenster erlauben den Blick hinter die Fassaden. Man blickt auf blut spritzende Auseinandersetzungen in den heilig gehaltenen, heimischen vier Wänden. Alle Personen auf der Bühne spielen gekonnt mit skurrilen Übertreibungen, die in den besten Momenten an Wilson-Arbeiten erinnern. Die seicht umspülenden Musikeinlagen von Erobique verstärken diese in Richtung ironisierender Witz. Eine sehenswerte Aufführung!
Woyzeck
Aus dem Netz gefallen
Ein riesiges Netz ist quer über die Bühne gespannt. Es kann Woyzeck (Felix Knopp) und Marie (Maja Schöne) ein gemütliches Bett bereiten. Es kann ihnen einen Leiter zum Emporsteigen sein. Es kann sie aber auch durch das gesellschaftliche Raster fallen lassen. Bühnenbildner Florian Löscher hat mit der Regisseurin Jette Steckel eine wunderbar prägnante Ausdrucksform für Woyzecks Lage gefunden. Tom Waits Musik liefert dazu die passende düstere Stimmung.
"What is the matter with love with live, when we all must die?" klagt Woyzeck nach seiner Tat. Schlaff hängen Maries Arme und Beine da schon durch die Maschen. Sorgsam lässt Woyzeck sie auf den Boden herab und sich selbst hinterher. Nebeneinander liegen sie wie zwei aus dem Nest gefallene Vögel nun so friedlich vereint wie selten im Leben.
Wunderbare Bilder, schöne melancholische Musik von Tom Waits, tolle Schauspieler: Thalia at his best!
Kontrakte des Kaufmanns
Die Opferlämmer des Kapitals
Ein überbordendes Theaterexperiment hat Stemann fürs Thalia eingerichtet. Ein Happening wurde es für die, die der vierstündige Theaterabend nicht schreckte. Ein Guido-Rap, ein Stemann-Song, Chorsprechen, Vorträge am Bord, Videoprojektionen sorgen für ein Höchstmaß an Abwechselung, wenn auch der Text mitunter zu Wiederholungen neigt. Die, die bis zum Schluss ausharrten, zeigten durch ihren lang anhaltenden jubelnden Applaus, dass es sich gelohnt hatte.
Stemann hat sich wieder einmal Jelinek gestellt. Er hat sich ihres 160-seitigen Werkes über die Machenschaften der Banken, das aktueller nicht sein könnte, angenommen und es in seiner ironisierenden Art auf die Bühne gebracht. Dass er die Jelinek-Textmassen dabei oft nur als Hintergrundrauschen nimmt, schmälert den inhaltlichen Botschaft des Abends keineswegs. Denn Jelinek hämmert es ihren Zuhörern auch so deutlich genug ein: Die Drückerkolonne der Bankmanager ist zur Druckerkolonne geworden. Sie haben sich mit Hilfe ihres bevorzugten Kundensegmentes A und D (alt und dumm) das Geld zum Drucken wertloser Zertifikate besorgt, es auf karibische Inseln verfrachtet und es dort für sich arbeiten lassen.
Marx-Saga
Die Wahrheit über Marx
Christiane Pohle hat für das Thalia Theater die Marx-Saga nach dem Roman von Juan Goytisolo in Szene gesetzt. Die Bühne ist schwarz und leer. Eine Flughafen-Anzeigetafel offenbart: Out of order. Hier steigt kein Flieger mehr in die Luft. Nur Rikschas stehen parat, um die, die es sich noch leisten können, herumzufahren.
Der Wunsch des Verlegers nach saftigen Storys für das Publikum verhallt ungehört. Der Journalist (und die Regisseurin) lassen stattdessen nacheinander Marx, seine Frau, seine Kinder und seine Haushälterin auftreten und zu Wort kommen. So entsteht ein Bild eines Mannes, der ganz seiner Vision einer besseren Welt lebte. Dass er dabei seine Familie zu darbenden Mitarbeit verpflichtete, scheint ihm keiner von ihnen übel zu nehmen. Da mag die gescheite Frau Professor aus der Gegenwart (Franziska Hartmann) noch so sehr die traditionellen Rollenzuschreibungen, die auch im Haus Marx nicht in Frage gestellt werden, anprangern.
Der Stoff ist aktuell, keine Frage. Doch so recht will der Funke bei dem Abend im Thalia nicht überspringen. Zu bruchstückhaft bleiben die Ansätze, in denen sich Pohle dem Marx-Mythos annähert. Das wirkt nicht dialektisch sondern eher beliebig. Doch es ist noch nicht zu spät für Ideen Marx: "Under construction" tröstet die Anzeigetafel zum Schluss.
Große Freiheit Nr. 7
Ohne Seemannsgarn
Keine Spur von Seefahrerromantik: Nur große, funktionelle Lagergerüste stehen auf der leeren, schwarzen Bühne. Bilder des Hamburger Hafens sind nur noch eine undeutliche Projektion auf den weißen Kartons, die unter zwei der Gerüste gestapelt sind. Wie versprengte Einzelwesen strolchen die Personen im Dunkeln zwischen den Gerüststangen umher. Sie sind gezwungen in Bewegung zu bleiben, da sich die Drehbühne beständig dreht. Einzig Hannes (Matthias Leja) bleibt außen vor: Er sitzt stoisch auf seinem Barhocker vor dem Mikro: der singende Seemann ohne Schiff. Perseval nutzt seine Inszenierung zur Versachlichung des Hamburger Hafen-Images: Hannes Liebeswerben besteht aus den neuesten Fakten über die Technik und die Wirtschaft der heutigen Umschlagmetropole. Dieses Zahlenwerk hätte ein Hans Albers wohl kaum über die Lippen gebracht. Ein wenig Sozialkritik darf nicht fehlen: Die heutigen Matrosen hätten keine Zeit für einen Landgang mehr. Wenn man Menschen mit einer Seemannsmütze in Hamburg herumspazieren sehen würde, wären das wohl eher Leute mit einem Hang zur Nostalgie - so wie der aus der Zeit gefallene Hannes auf der Bühne bei Perseval.
Die Räuber
Identitätssuche
Um Identitäten geht es: Gleich vier Darsteller spielen den Franz von Moor und seinen Vater. Immer wieder wechseln die vier Männer die Rollen, sprechen chorisch die zwei Personen. Auf der Suche nach dem eigenen Ich, nach dem Gegenüber und nach dem Vater gibt es so die beiden Brüder Karl und Franz in vierfacher Ausfertigung. Nicolas Stemann inszeniert das Drama als Sprachoper. Er benutzt die kraftvolle Sprache Schiller, um ihrem Rhythmus, ihrem Klang und ihrer Energie mit musikalischen Mitteln nachzuspüren.
Die vier Männer (Felix Knopp, Daniel Hoevels, Alexander Simon, Philipp Hochmair) sind eine perfekte Männercrew, die später bestens zur Räuberbande mutieren kann. Wenn sie johlend und Bier trinkend durch die Reihen stoben und "Freiheit" ausrufen, bekommt man ein Gefühl dafür, welche Motive bei ihrem Vorhaben im Vordergrund standen. "Stehlen, morden, huren, balgen" ist der Song ihres Männerbundes, der mit dröhnenden Bässen intoniert wird. Stemann lässt die Szenen auf der Metallrückwand mit Digitalaufnahmen aus einer Miniatur-Modelllandschaft illustrieren, die in ihrer Künstlichkeit einem Kitschfilm entnommen sein könnten. Er vollbringt das Wunder gleichzeitig die Geschichte immer wieder ironisch zu brechen und dennoch die Figuren in ihrem Schicksal ganz ernst zu nehmen. Das ihm das bei seinem künstlichen Konzeptansatz gelungen ist, hat er auch den virtuosen Schauspielern des Thalia-Ensembles zu verdanken.
Kinder der Sonne
Alles Illusion
Kinder der Sonne sind wir, behauptet der Wissenschaftler Pavel (Jens Harzer). Doch die Sonne, von der er in seinem abgeschrabten Bürostuhl philosophiert, ist nur mit dicken ungelenken Pinselstrichen auf die große Leinwandrolle gemalt. Maxim Gorki entwirft in "Kinder der Sonne" ein Nachtasyl mit umgekehrten Vorzeichen. Hier sind es nicht die Ärmsten und von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, die er beschreibt, sondern die Privilegierten. Doch die Bilanz ihres Lebensglücks fällt trotz besserer Startbedingungen nicht wesentlich positiver aus.
Im Gegensatz zum minimalistischen Bühnenbild werden die psychologischen Feinheiten der Personen sorgsam gezeichnet. Regisseur Luk Perseval kann sich dabei voll auf das exquisite Ensemble verlassen. Sie zaubern auf dem einfachen Brettergestell eine Lebenswelt, die interessiert. Wie viel beeindruckender hätte der Abend noch werden können, wenn die Regie mehr Bewegungsfreiheit und das Bühnenbild mehr Fantasieanreiz ermöglicht hätte.
Nach der Probe
Traumspiele
Regisseur Henrik Vogler (Wolf-Dietrich Sprenger) liebt die sanfte Melancholie eines stillen Theaters. So bleibt er nach der Probe im leeren Zuschauerraum. Doch die junge Schauspielerin Anna (Nadia Schönfeldt) sucht den Kontakt zu dem erfolgreichen Künstler, der sie, die unerfahrene Nachwuchsschauspielerin, für eine große, schwierige Rolle in Strindbergs Traumspiel engagierte. Henrik Vogler lässt sie gerne an seinen Weisheiten teilhaben. Ein weiteres Traumspiel ereignet sich mitten in ihren Annäherungsversuchen: Annas Mutter (Oda Thormeyer) platzt als hysterische, alternde Ex-Schauspieldiva zwischen die Stuhlreihen. Sie will ein letzte Chance von Henrik: sowohl als Bettgefährtin als auch als Besetzung für eine große Rolle. Doch diese Frau, die Anna in zwanzig Jahren sein könnte, ist zu sehr durch ihre Enttäuschungen, ihren Alkoholkonsum, ihre Verbitterung gekennzeichnet.
Ein intensives Kammerspiel hat Regisseur Luc Perseval mit den drei hervorragend besetzten Schauspielern auf die Spiegelbildbühne mit dem steil ansteigenden Stuhlreihen eingerichtet.
Nathan der Weise
Hörstück kontra Bilderflut
Ein Lehrstück, in dem keine Menschen vorkommen, ist für Nicolas Stemann "Nathan der Weise". So hat er ganz konsequent Lessings Text weitgehend als Hörstück vom Blatt ablesen lassen. Einzig ein großes Mikrophon ist zu Beginn seiner Inszenierung im Thalia Theater zu sehen. Die Schauspieler kommen erst zum zweiten Akt hinter einem Vorhang am Bühnenrand hervor. Als szenische Lesung kommt der Text in all seiner sprachlichen und gedanklichen Schönheit voll zu Geltung. Nichts lenkt ab. Dann wird eine riesige Papierbahn von der Bühnendecke über die gesamte Bühne gezogen. Auf ihr bricht nun eine Bilderflut und Gefühlsflut über die Zuschauer herein, die Elfirede Jelinek in ihrem Kommentar "Abraumhalde" zu "Nathan der Weise" gibt. Hier kommt der Hass, die Intoleranz, der Wahnsinn, die Rachegelüste, die Vorurteile, die Missgunst zum Vorschein, der bei Lessing durch die Vernunft im Zaum gehalten werden sollte. So schnell der Emotionsrausch hereinbrach, so schnell ist er wieder vorbei. Das Mikrophon schwebt wieder von der Decke herab und Lessing erklingt. Der letzte, alle versöhnende Akt wird gelesen. Der Theaterprovokateur Stemann setzt mit seiner Nathan-Inszenierung ein Statement, das sich wohltuend von all seinen gutmenschelnden Vorgängern abhebt.
Ödipus
Unreifer Tyrann
Dimiter Gottschefs inszeniert das Drama im Thalia Theater als tragisches Modell. Er verweigert ihm jede Konkretisierung. Er zeigt Ödipus als großes Kind, als tragische Gestalt des Nichterkennens, dem die Dimension seiner Verantwortung bis zum Schluss nicht klar wird. In der letzten Szene hat er sich am Boden wälzend das Shirt über den Kopf gezogen. Erkennt er immer noch nicht seinen tragischen Irrtum als Alleinherrscher Thebens, der fatale Fehleinschätzungen traf?
Das Publikum konnte Ödipus Unverständnis zum Teil sehr intensiv nachfühlen. Hölderlins Text, der Grundlage für Müllers Bearbeitung war, unterbindet einen leichten Zugang. Ein paar Verständnishilfen hätten die Erkenntnisfreude des Publikums sicher noch steigern können. So blieb sie hauptsächlich Kennern des philosophischen und literarischen Hintergrunds (oder eifrigen Lesern des Programmheftes) vorbehalten. Da Gottschef die Ablenkung von Müllers Text durch etwaige sinnenfreudige Unterhaltungselemente vermeiden wollte, ist diese Inszenierung eher etwas für Menschen mit hohem Maß an Konzentrationsvermögen, feinem Gehör und Interesse an literaturwissenschaftlichen Diskursen.
Othello
Ein Neger kann kein Liebhaber sein
Zwei Klaviere, ein schwarzes und ein weißes, liegen in Missionarstellung auf der ansonsten leeren Bühne. Eine klare deutliche Bildersprache, die nicht erst deutlich wird, als Desdemona sich auf den weißen Klavierkasten zum Schlafen legt. Othello, der erfolgreiche schwarze Feldherr für die Venezianer, der immer auch ein Anderer hätte werden können, hat sich für ihre Zwecke benutzten lassen. Folgerichtig ist Thieme nicht schwarz geschminkt sondern unübersehbar weiß. Er, den Desdi zärtlich Schoko nennt, ist für die anderen der Fremde, der Niger, der Eindringling, wenn sie einen solchen brauchen. Vom Benutzen Lassen, vom Benutzt Werden handelt „Othello“ in der Inszenierung von Luk Perseval, in der unnachahmlichen, drastischen Übertragung von Zaimoglu und Senkel. Sie scheuen sich nicht die sexistische und rassistische Ausdrucksweise von heute zur Klarstellung ihrer Intention zu benutzen. Hier dürfen der wortgewandte und schmierige Jago und sein Kumpan Rodrigo so häufig das Wort „ficken“ in den Mund nehmen, dass sie wie ein Abbild von Kiezgangstern – aber im dunklen Manageranzug – durchgehen könnten. Der Kontrast zu ihren dunklen Businessanzügen wirkt dafür umso stärker. Hier reden und handeln sie im Gassenjargon, während ihre äußere Weste blütenrein erscheint.

Peer Gynt
Träume von Pappe
Einen riesigen Vorrat an Träumen hat Peer Gynt. Dass sie eher von Pappe sind, davon zeugt der Kubus aus lauter Speditionskartons auf der Bühne. Als chronischer Lügner erspinnt er sich die Welt gern nach seinen Wünschen. Als Kaiser sieht der besitzlose junge Mann sich schon, dabei findet er nicht einmal in seinem Dorfe Menschen, die ihn anerkennen. Nachdem er die Braut eines anderen entführt hat, muss er fliehen. Seine Suche nach Selbstverwirklichung wird ihn dabei bis an das Ende der Welt führen und zuletzt wieder dorthin, wo sie begann. Denn er sucht überall nur sich selbst. Wie eine Zwiebel häutet er sich mit jeder Erfahrung Schicht um Schicht. Mit jedem Reiseschritt brechen auch weitere Schichten des auf der Bühne stehenden Pappkartonhauses heraus. Immer mehr gibt es von seinem Inneren preis. Doch wie Peers Seelenzwiebel ist es leer. Die erste Hälfte des fast vierstündigen Roadtheatre von Jan Bosse im Thalia Theater weiß zu faszinieren. Doch in der zunehmenden und absehbaren Vergeblichkeit von Peers Suche mischt sich der Wunsch nach dem erkenntnisreicheren Ende der Reise.
Ein hervorragend besetztes Ensemble mit einem sich verausgabenden Jens Harzer in der Titelrolle machen den Abend trotz einiger Längen zu einem der spannenden Theaterabende im Thalia unter der neuen Intendanz von Joachim Lux.
Richard II.
Das leere Ich
Richard versucht seinen Kerker mit der Welt zu vergleichen, doch im Gegensatz zu ihr, gibt es hier keine Menschen. So ist er gezwungen, alle Gesprächspartner in seiner Fantasie zu erschaffen. Im Erinnern an die Personen, die ihn in seinem Leben begegneten, versucht er sein Sein zu finden, neu zu erfinden. Doch er muss feststellen: Ist er kein König mehr, ist er kein Richard mehr. Ein Selbst ohne sein von Gott verliehenes Amt ist ihm nicht vorstellbar. Nachdem der Konkurrent Bolingbroke, den er zunächst in die Verbannung schickte, eine Revolte gegen ihn anzettelte und ihn anschließend entmachtete, ist sein Leid übermächtig. Eine leere, nutzlose Ich-Hülle bleibt übrig.
Regisseurin Cornelia Rainer hat das Shakespeare-Solo, das nach dem Ende von "The life and the death of Richard the second" beginnt, als eindringlichen Monolog von Sven-Eric Bechtolf inszeniert. Vor schwarz-weißer Kerkerkulisse agiert der gebrochene Machthaber in all den Rollen seiner imaginierten Gesprächspartner virtuos.
Jackie - ein Prinzessinnendrama
Ich bin mein Kleid
Ein Märchen war das Leben der Jackie Kennedy nicht, eher ein Drama. Elfirede Jelinek nähert sich in einem ihrer Prinzessinnendramen der First Lady an.
"Nie konnte ich etwas an mich heranlassen, nicht einmal den Stoff meiner Kleider." Stattdessen trug sie kurze Hängerchen, die sie zur Kindfrau machten. Keine betonte, keine betonierte Taille. Perfekt inszeniert für die Massen, die die Kennedys sehen wollten. Sie, die nie ein Abziehbild sein wollte, verschwand hinter ihrer eigenen Inszenierung, die sich eigentlich zu ihrem eigenen Schutz erkoren hatte. Mit einem perfekt hingeschminkten Strahlelächeln lässt Katharina Matz während ihres Monologs unter der Regie von Benedikt Haubrich auch die Verletzungen durchschimmern. Statt Scheinwerfern beleuchten sie Diafotos. Sie zeigen jedoch keine Fotos sondern leere fleckige Diarahmen. Die Bilder im Kopf, die alle Zuschauer von Jackie im Kopf haben, können so unbeeinflusst ablaufen.
The truth about the Kennedys
Es gibt keine Wahrheit
Luc Perseval hat sich in seiner Inszenierung für das Thalia Theater an die akribische Sichtung der Faktenlage gemacht. Schließlich heißt sein Stück nicht umsonst „The Truth about the Kennedys“. Im Bewusstsein, dass „die Wahrheit“ nur eine Konstruktion sein kann, nähert er sich in Zirkeln den möglichen Wahrheiten an. Er erzählt sie aus der Perspektive des JFK-Vaters Joe (Hans Kremer). Er, der strategisch operierende Geschäftsmann, und seine streng katholische, hart durchgreifende Frau Rose(Bibiana Beblau) werden zu den zentralen Einflussfiguren, die den Aufstieg dieser Familie erst möglich gemacht haben. Imagepflege durch die Medien wird mit großer Aufmerksamkeit betrieben und Verbindungen zur Mafia werden bei Bedarf eingesetzt. Die Kennedys schienen das System Amerikas perfekt durchschaut zu haben. Sie nutzten den Sozialdarwinismus geschickt für ihre Zwecke.
Das Bühnenbild besteht aus einer leeren Drehbühne, die unaufhörlich vor einer geschlossenen Wand aus riesigen Zeitungsstapeln kreist. Auf sie werden Foto und Videoprojektion mit Dokumentaraufnahmen geworfen, die im Medienbild seltsam unscharf wirken. Alles bezieht Perseval in sein Kreisen um die Wahrheit ein. So ist es kein Wunder, dass sein Enthüllungsabend fast vier Stunden dauert.
Die Dreigroschenoper
Der Mensch an sich ist schlecht
Eine öde Steinwüste ist die Erde, auf die die Menschen ihr Leben fristen müssen. In hautfarbenen Trikots ohne jede Verkleidung kommt ihre Natur gnadenlos zum Vorschein. Und die ist schlecht.
Berthold Brecht weiß warum: "Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral". Nur Gaunerei und Korruption füllen die Mägen.
Zwischen zwei Gerüsten steigt ein Gitterkäfig beständig nach oben. Mackie bezieht auf seinem Dach Stellung, von dem es lange Zeit so aussieht, als wenn der Fahrstuhl ihn direkt an den Galgen und damit wohl eher in die Hölle bringen würde. Doch ein unerwartetes Happy-End am Schluss erlaubt allen Menschen, ab arm oder kriminell den Aufstieg bis in den Bühnenhimmel. Der Regisseur Jarg Patakis gewinnt der Dreigroschenoper trotz des engen Rahmens, den Brechts Erben jeder Aufführung anlegen, eine abstrakte, neue Sichtweise ab. Stilisiert nimmt er den Figuren zwar ihre Persönlichkeit, aber schenkt ihnen dafür eine artifizielle Universalität, die jedem folkloristischen Ansatz vor vornherein eine Absage erteilt. Die Musiker sind Teil der Bühne und blasen mitunter den Schauspielern direkt den Marsch. Durch frei improvisierte Überleitungen wird Weills Musik intelligent weitergedacht. Tolle Inszenierung!
Jan Plewka singt Rio Reiser
Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird.
Rio Reiser wollte die Welt verändern. Dafür ging er mit seiner Band "Ton, Steine, Scherben" auf die Bühne und forderte: "Keine Macht für Niemand!" Doch seiner späteren Solokarriere wurde immer klarer: Eigentlich ist er ein Idealist. Das macht nun Jan Plewka in seiner Show im Schauspielhaus deutlich. Ungeheuer zärtlich, liebevoll verkörpert er den zarten, rebellischen Träumer, in dessen gebrochener Stimme, die heiser ihre Sehnsüchte herausschreit, schon der Verlust der Hoffnung mit anklingt. "Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird." Jan Plewka erzeugt mit seiner Band "Schwarz-rote Heilsarmee" eine Stimmung auf der Bühne des Schauspielhauses, die einen auf den Sitzkissen enger zusammenrücken lässt.
Das ist ein Abend zum Träumen, zum Schwelgen in einer Welt, die Rio Reiser sich gewünscht hätte. Jeder der Zuschauer träumte gerne mit ihm.
Mein Essen mit Andre
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Zwei alte Freunde, die sich Jahre lang nicht mehr getroffen haben, sind zu einem Abendessen in einem Lokal der Oberklasse verabredet. Die Rollen sind von Anfang an klar verteilt: Der eine – der berühmte New Yoker Tehaterregisseur André Gregory (Jörg Knebel)- redet, gestikuliert und erzählt, der andere - Wallace Shawn (Janning Kahnert) - nickt zustimmend, schaut fragend und hört ansonsten zu. Auffällig ist dabei, dass André von seinem Wunsch nach Stille, vom Schweigen, von Intuition und Aufmerksamkeit spricht. Und dabei ohne Punkt und Komma auf den anderen einredet. Als sein Gegenüber zum Schluss einem eigenen Standpunkt wagt, wird der Kellner sofort zum Bringen der Rechnung aufgefordert. Kritische Selbsterkenntnis, die mit lautstarkem Selbstmitleid gepaart ist, scheint nicht vor den Fallstricken der New Yorker Verhaltensmuster zu schützen. In der Bar des Maritimhotels hat Dominique Schnizer die Verfilmung von "Mein Essen mit André" in Szene gesetzt. Die Kosten des Bühnenbildes wurden so auf eleganteste eingespart. Für ein wahrhaftiges Ambiente war gesorgt. Die Zuschauer durften das Gespräch am Nebentisch ohne schlechtes Gewissen belauschen. Dank des intimen Rahmens und der sympathischen authentischen Präsenz der beiden Darsteller erfüllte sich die Befürchtung von Wallace zu Beginn nicht: Im Gegensatz zu ihm mussten sie nicht fürchten sich an diesem Abend zu langweilen. Sie konnten mit dem angenehmen Gefühl nach Hause gehen, zwei interessante Menschen persönlich bei einem Abendessen kennen gelernt zu haben.
Im Stillen
M –ein Mann jagt sich selbst




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