Kaltstart-2010

Kaltstart 2010
Kaltstart-Tagebuch
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Sonntag
Der letzte Festivaltag ist gekommen. Der Text von Nis-Momme Stockmann  Der Mann der die Welt ass hatte beide Preise des Heidelberger Stückemarktes eingeheimst. Das Theater Heidelberg zeigte ihn nun auf dem Kaltstart-Festival. Ein erfolgreicher Thirty-Something hat sein Leben scheinbar wunderbar im Griff. Seiner Frau und den zwei Kindern hat er sich elegant entledigt. Selbst seine Kündigung versucht er für sich als endlich gewonnene Freiheit umzudefinieren. Doch ein Anruf seines Vaters stellt ihn vor ungekannte Herausforderungen. Dieser leidet unter zunehmender Demenz und braucht seine Unterstützung. Der Mann beginnt um sein gewohntes Leben auf der einsamen Überholspur zu kämpfen. Gegen seinen Vater, gegen die Ansprüche seiner Exfrau, gegen seinen zugekifften Bruder, gegen seinen einzigen Freund, der partout nicht für seine Selbstständigkeit bürgen will. Stockmann hat einen wunderbar differenzierten, starken Text geschrieben, der haarscharf die Balance zwischen übersteigertem Egoismus und Verantwortungslosigkeit, zwischen Überforderung und Weiterentwicklung, zwischen Klammern und Loslassen hält. Regisseur Dominique Schnizer inszeniert es auf dem weißen Podest auf den Punkt genau.
Das folgende Stück Fan in the mirror konnte dieses hohe Niveau nicht halten. Benjamin Hille zeigte zwar einen Michael Jackson in High speed und beleuchtete seine Geschichte aus der Sicht eines Fans aus vielen Perspektiven, glitt aber immer wieder in zu gewollt spielwitzige Episoden ab. Weniger Requisiten, weniger Perücken, weniger Theaterschminke hätten seine Reflektionen und gekonnten musikalischen Einlagen besser zur Geltung gebracht.
Nach dieser letzten Vorstellung des Kaltstart-Festivals stellt sich nun die Frage: Gab es eine Zeit ohne die Qual der Wahl zwischen sechs verschiedenen Vorstellungen an einem Abend? Ab dem morgigen Montag werden wir es erleben.
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Freitag
Zwei Männer befinden sich aufgrund mysteriöser Umstände in einer scheinbar aussichtslosen Lage. Was sie miteinander zu schaffen haben, wie sie in diese Lage gekommen sind, was sie noch erwartet, ob sie frei sind zu gehen- all das ist ungeklärt, und bleibt es auch. In Striptease 2010 entblättert sich nicht einmal die Rätselhaftigkeit des Projektes von den Bernern Chicken & Eggs. Viel konkreter geht es da beim altbewährten Büchner zu. Laura Jakschas schafft es dem viel inszenierten Stück Woyzeck neue Aspekte zu geben. Sie zeigt, wie die Geschichte zwischen Marie und Woyzeck beginnt. Woyzeck (herausragend: Jonas Vietzke) versucht ein selbst gedichtetes Liebeslied auf der Gitarre zu intonieren und Marie (toll: Lena Kußmann) ist beeindruckt. Endlich ein Mann mit Sinn für Romantik! Doch dieser Mann ist mittellos und muss für ihrer beider Lebensunterhalt und ihrem sich bald einstellenden Nachwuchs beim Doktor Experimente und beim Hauptmann Beleidigungen über sich ergehen lassen. Der sensible Woyzeck verändert sich. Zu seinem Nachteil, wie die vergnügungsfreudige Marie findet. Sie lässt sich von einem Ketten spielender, gegelten Hyper-Macho, zu dem der Tombourmajor in der Lauenburger Inszenierung mutiert ist, flachlegen. Der Sohn( Leif Scheele) betritt bei Jakschas leibhaftig die Bühne und fordert lautstark die Aufmerksamkeit der Erwachsenen ein. Er liebt und braucht die Geschichten und Gedichte, die seine Eltern ihm erzählen. Nachdem Woyzeck „wie ein offenes Messer“ durch die Gegend gelaufen ist, kommt der Sohn ein letztes Mal auf die Bühne. Im Hintergrund hört man eine Gute-Nacht-Geschichte, vorgelesen von seinen toten Eltern: ein Andersen-Märchen von einem Kind, das zuerst seine Mutter verliert, dann seinen Vater und ganz allein zurückbleibt. Eine temporeiche Inszenierung, die trotz des bekannten Stoffes gefangen nahm.
Donnerstag
Während bei Tschechow alle nach Moskau wollen, streben Helena und Paris Nach Troja I. Das Rottstr-Theater aus Bochum nimmt ihre Liebesgeschichte in Kriegszeiten als Prototyp aller Liebesgeschichten in Kriegszeiten. Hier geht es nicht nur um Troja sondern auch um Nagasaki, den Irak und Afghanistan. Helena wird zur Verkörperung aller schönen Frauen und Paris zum Inbegriff des jugendlichen Liebhabers. Mit allen Sinnen soll dieses Theater wirken. Ekstatische Liebesspiele, rote Beleuchtung, Dämpfe aus Wasserpfeifen und brodelnde Kochtöpfe – all diese Ingredienzien benutzt Regisseur Arne Nebel um den Mix aus Texten von Burroughs, Ellis, Eldritch, Jesurun, Müller, Nobel und Simmons zur größtmöglichen Wirkung zu verhelfen.
Im letzten Teil der Trilogie Nach Troja III geht es in Odysseus Monolog ähnlich exzessiv weiter. Dieser Mann, der trunken von Alkohol, Schmerz und Lebensüberdruss ist, will seinem Dasein endlich ein Ende machen, was ihm mit einem großen Knall auch gelingt.
Ohne jede Effekthascherei kommt das kleine Porträt Finnisch einer einsamen Frau aus, das Sabine Menne liebevoll und einfühlsam zeichnet. Um dem Postboten mit dem netten Lächeln zu begegnen, schickt sie sich selbst ein Paket. Nur in Selbstgesprächen fühlt die schüchterne Frau sich sicher. Ihre „Ichbefestigung“ hält sie in einem engen Rahmen fest. Sie wünscht sich den Kontakt mit einem Gegenüber und fürchtet ihn zugleich. Sie weiß: „Das kann auch schmerzhaft sein.“
Die Hamburger Azubis Kai-F. Fischer und Christopher Weiß erteilen als Suicide Boys eine Fortbildung in Sachen Selbstmord. Sie führen verschiedene Möglichkeiten mit Overheadprojektor, Filmeinspielung und Comiczeichnung vor. Mit Erfolg! Zum Beweis sieht man sie auf der Leinwand als Engelchen, die andächtig aber auch gelangweilt Harfengeklimpere lauschen. Als unterhaltsamer Ausklang eines Hamburger Theaterabends war ihre Weiterbildungsmaßnahme dank des nicht zu überhörenden Lokalkolorits bestens geeignet.

Mittwoch
Ein Tag, der viele Lebens entscheidende Fragen stellte. Das begann schon mit Weißt du wer Mr. Pink kennt? Mr. Pink lernen die Zuschauer im Laufe der Aufführung besser kennen. So nennt sich nämlich die Berliner Gruppe, die das Stück von Thorsten Frey und Claudia Sennecke in Szene setzte. Ausgerechnet auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier stellt sich eine Braut die Frage, ob sie wirklich mit diesem Mann ihr restliches Leben verbringen will. Ratgeber, die ihre Zweifel aus eigenem Erleben nur noch bestärken können, findet sie ironischer Weise in den von ihrem Bräutigam engagierten Überraschungsgästen: das Schauspielerduo Schmidts Katze. Gegensätzliche Lebensentwürfe werden hier durchgespielt. Großstadt prallt auf Provinz, Coolness auf Gewohnheit, Risiko auf Sicherheit, Trash auf Biederkeit. Ebenso vielfältig sind die Stilmittel der Pinks.
Warum das Kind in der Polenta kocht – das erzählt Aglaia Veteranyi in ihrem autobiographischen Roman. Annekathrin Bach vom Ballhaus Rixdorf spielt das Mädchen, das von ihrer Kindheit im Zirkus berichtet. Sie weiß genau: Man darf die Mutter nicht aufregen, das schwächt ihre Haare und dann stürzt sie ab. Denn ihre Mutter ist die Frau, die an ihren Haaren in der Zirkuskuppel hängt. Ihre Schwester muss ihr zur Ablenkung die schreckliche Geschichte des gekochten Kindes erzählen. Immer auf der Suche nach einer möglichen Heimat zieht die Familie nach der Flucht mit der stetig abbröckelnden Zahl an Mitgliedern durch das neue Land. Regisseur Fabian Sattler findet immer wieder neue Bilder, um die Situation des Mädchens zu zeigen. Sieben Holzkisten können zum Schlafsaal werden, zur Zirkusarena, zum voll gestellten Wohnwagen, zum Hotelzimmer. Sie demonstrieren sogar, wie in den Wänden des einstigen Heimatlandes Spitzel wohnen können. Die beiden Trapezkünstler an Bachs Seite sorgen stumm aber ausdrucksstark für die nötige Zirkusatmosphäre. Eine dichte, an Überraschungen reiche Umsetzung des poetischen Stoffes.
Habe ich dir eigentlich schon erzählt, so beginnt fast jeder Satz von Anna. Das Mädchen, das viele (sie selber auch) ein wenig merkwürdig finden, trifft auf Maximilian, der ebenfalls wenig Freunde hat. Eine weitere Gemeinsamkeit der Beiden ist, dass sie beide Elternteile haben, die sich einzig durch Schweigen und Unvermögen auszeichnen. Das lässt sie einen weit reichenden Entschluss fassen: Sie fliehen aus ihrer tristen Heimatstadt in der DDR. Das Stück von Sybille Berg lässt die beiden Vierzehnjährigen lakonisch von ihrer abenteuerlichen Suche nach einem besseren Leben erzählen. Das Theater Aachen unter der Regie von Jan Krüger setzt diesen sprachlichen Ausdruck konsequent in der Darstellung um. Mit auf den Punkt genau reduzierten Bewegungsvariationen stellt er die beiden Schauspieler auf eine Fläche inmitten der Zuschauer. Das gelingt mit Anne Wuchold und Björn Büchner ganz wunderbar.
Dienstag
Verdrängung ist das Thema des Stückes Koala Lumpur, das das Staatstheater Innsbruck zeigte. Das Projekt WTC bleibt das Ziel von Frau Schmidt und ihrem Praktikanten Max, als sie für ihre junge Start-Up-Firma nach New York aufbrechen – obwohl die Türme gerade eingestürzt. Die Tatsache, dass sie um Reisekosten zu sparen auf dem Campingplatz bei strömenden Regen nächtigen müssen und ihre privaten Bedürfnisse auf dem beschränkten Raum eines Zeltes nachgehen müssen, ist viel dichter als die Terrorakte. Das immer wieder ins Absurde und Drastische kippende Stück von David Lindemann bietet eine breite Plattform für klamaukige Darstellungen, die in die Übertreibung des realistischen Anspruchs tendieren. Regisseurin Susi Weber nutzte sie weidlich aus.
Ganz anders die Liebesgeschichte des Max Reinhardt Seminars aus Wien. Die Story von Franzobel böte Stoff genug für eine knallige Inszenierung, die sich um die Untertöne wenig sorgen müsste: Ein Mann läuft Amok; nachdem sich seine Frau Marie mit den zwei Kindern aus dem Fenster gestürzt hat, erschießt er den neuen Freund seiner Geliebten Dunja. Danach versetzt er die Straßen Wiens in Aufruhr. Unter der Regie von Sarantos Zervoulakos wird daraus ein wunderschönes, pralles Theaterstück. Die drei Darsteller bewegen sich während der ganzen Aufführungszeit kein Stück von ihrem Platz auf dem Matratzenlager fort. Doch während sie dort wie angewurzelt sitzen, entführen sie die Zuschauer in immer neue Welten. Mit wenigen Requisiten werden sie zu neuen Figuren, denen der Mann auf seine Suche nach Liebe begegnet. Mit der Handtasche ist Sophia Freynhofer die liebende Marie, mit den roten Schuhe die laszive Dunja, mit der Brille die gestrenge Frau Polizistin. Markus Westphal ist in Uniform der Kommissar, in Unterhemd der Taxifahrer mit russischem Akzent und mit Zopf und Amulett der brutale Macho-Liebhaber. Christoph Schechinger brilliert in der Rolle des Mannes, der glaubte sein Leben fest im Griff zu haben und nun alles verliert.
Montag
„The whole environment becomes isolated.“ Dieser Satz eines Maler-Kollegen scheint jetzt auf einmal zu passen. Nachdem die Malerin in K. (Kabul) war, haben sich alle bisherigen Möglcihkeiten der künstlerischen Darstellung aufgelöst. Keine scheint mehr die passende zu sein für das Gesehene. Beim Gastspiel der meetfactory aus Prag mit Land ohne Worte wandert die Künstlerin rastlos in ihrem verwahrlosten Atelier umher. Immer wieder reißt sie Müllsäcke auf, schiebt das Bett an eine andere Stelle, probiert eine neue Haltung zu dem Erlebten aus. Unter der Regie des Berliner Kai Ohrem spielt die Prager Schauspielerin Ivana Uhlirová mit einer solchen Intensität, dass schon alleine ihre Intonation und ihr Körper sprechen. Mit den deutschen Übertiteln erschließt sich dann auch der Inhalt. Es ist ein Erlebnis dieser eindrucksvollen Schauspieler-Persönlichkeit bei ihrer Suche nach Ausdrucksformen für das Leiden der Menschen im Krieg zu begleiten.
Anschließend zeigte die Tänzerin und Musikerin Handa Gote in Noise, wie sie mit ihrem Körper und einen technischen Hilfsmitteln Töne und Licht mit Bewegung erzeugen kann. Bewegungsmelder schalteten Licht an, Mikrophone am Boden übertrugen jedes zarte Tapsen, zwei Mobilsprecher erzeugen Interferenzen. Hinterher lud Gote die Zuschauer in ihr Techniklabor zum Experimentieren auf die Bühne ein.
Sonntag
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article1570502/Feuchtgebiete-Flucht-aus-der-Einsamkeit.html
Eine junge Frau (Tascha Solis) in Krankenhausnachthemdchen hüpft beschwingt auf die Bühne und stellt sich ans Mikro: In ihrer Familie sei die Muschihygiene immer groß geschrieben worden. Erst allmählich konnte sie sich davon emanzipieren: Heute schwört sie auf ihr eigenes Muschiparfüm. Aha, die Feuchtgebiete der Skandalautorin Charlotte Roche, wie man sie erwartet hat.
Doch die Theater Liga unter der Regie von Peter Dorsch hat sich zum Glück bei der Adaption dieses Buches für die Bühne nicht mit der medientauglichen, provozierenden Oberfläche zufrieden gegeben. Sie haben aus all den intimen Sex-Geständnissen Helen Memels die Geschichte einer einsamen Achtzehnjährigen extrahiert. Autorisiert wird dies durch das Rocheeigene Vorwort, in dem sie ihre Form von Glück beschreibt: Sie möchte ihre beiden Elternteile bis zu ihrem Tode pflegen, und zwar in einem Bett; dann wären diese geschiedenen Leute endlich wieder bei ihr vereint.
So erzählen die vier Schauspieler (Vanida Karun, Tobias Büssow, Mathis Köllman) die Coming-of-Age-Geschichte einer Helen, die auf der Suche ist nach einer Familie, die sie nicht im Stich lässt. Sie schälen aus dem ganzen freizügigen Gerede über Körperabsonderungen den traurigen Kern eines jungen Mädchens heraus, das sich schon mit achtzehn sterilisieren lässt, damit sie den Kreislauf von gestörten Töchtern durchbricht und sich seitdem lieber der Pflege ihrer selbst gezüchteten Avocado-Familie widmet.
Dorsch arbeitet gekonnt mit ständigen Brüchen. Geständnisse über Analduschen und Schließmuskelübungen werden abwechselnd von den männlichen und weiblichen Darstellern in sachlichem Tonfall am Mikro gegeben, während die anderen zu seichtem Popgedudel dazu dezent swingen. Diese gewollt lockeren, redegewandten Teile von Helens Selbstinszenierung prallen auf Einblicke in ihre Familiebeziehungen, die von Schweigen gekennzeichnet sind.
Eine witzige, anrührende und tiefblickende Inszenierung, die das Bestseller-Buch unter einer ganz neuen Perspektive betrachten lässt.
Samstag
Elisabeth will sich unterkriegen lassen. Mit geradem Blick nach vorne auf ein imaginäres Ziel gerichtet, steht sie aufrecht zwischen den weißem Kistengebirge auf der Bühne. Dicke klobige Schuhe trägt sie zu ihrem unmodernen orangenen Kleid. Ihren Körper will sie verkaufen, in der Anatomie. Doch die Herren Präparatoren lachen sie nur aus.
Elisabeth gibt nicht auf. Erst findet sie jemanden, der ihr das Geld leiht, dann reiht sie sich in die Schlangen vor den Ämtern ein, dann trifft sie auf den Polizisten Alfons. Endlich scheint sich das Schicksal zu wenden...
In der Inszenierung des Horvath Stückes der Landungsbrücken Frankfurt werden alle weiteren Rollen neben der Hauptfigur von zwei Frauen gespielt. In schwarzen Hosen, weißer bauchfreier Bluse, Punkfrisur und Glitzeraugen universell einsetzbar gekleidet, verkörpern sie die Herren der Anatomie, Elisabeths Chefin und Kollegin, arme Bürger, Alfons und seinen Vorgesetzten. Einzig Elisabeth darf ihrer Figur ernsthafte Züge verleihen, die beiden anderen legen sie als Parodie an. So bleibt die Haltung zu dem Stück zwigespalten. Während Elisabeth ins Wasser geht, machen die bürgerlichen Zugucker darüber lustig. Dieses Regiekonzept überzeugt leider nicht zur Gänze, da die schauspielerische Leistung der beiden Universaldarstellerinnen hinter der von Elisabeth zurückbleibt.



Freitag
In einer Großstadt, im Regen, des Nachts auf den Straßen: Ein Mann ist auf der Suche nach einem Zimmer, einem Gefährten, einem Zuhörer. Mühsam versucht er seine eigene Würde zu erhalten, versucht sich als Starken zu sehen, der auf der Straße überlebt. Obwohl oder gerade weil er ein Fremder ist, sieht es sich als etwas Besonderes gegenüber all den „Idioten“, denen er begegnet. Denn er hat eine Idee... Dan Florescu von den Kammerspielen Paderborn nimmt in einem 90minütigen Monolog Die Nacht kurz vor den Wäldern die Zuschauer als Kameraden-Ersatz. Ohne Pause gibt er dem übernervösen „Macher“ im Club des Hauses 73 eine eindringliche Gestalt.
Die Unterrichtsstunde
Ionescu – ein Qualitätsmerkmal für absurdes Theater. Eine kleine Kostprobe gab das Hamburger Kulturkontor mit Die Unterrichtsstunde. Ein süßes Blondchen will sich beim Herrn Professor auf seine Promotion vorbereiten. Die Verzweiflung des gelehrten Herrn ob der Lernunwilligkeit seiner Schülerin sieht die rotlockige Hausangestellte Marie längst vorher. Doch jede Warnung prallt an ihrem Herrn ab. Clownsmasken zeichnen den Professor und Marie gleich zu Beginn als der normalen Welt enthoben, aus der das junge schicke Fräulein zu ihnen hereintritt. Ein vergnügliches Stückchen Theater, das das Publikum im Foolsgarden Theater sichtlich erheiterte.
Das Preisträgerstück Vom Schlachten des gemästeten Lammes und vom Aufrüsten der Aufrechten des diesjährigen Körberfestivals nun also noch einmal auf dem Festival für junges Theater in Hamburg, dem Kaltstart-Festival! Zuerst beginnt alles wie eine improvisierte Homediashow. John und Bjartur zeigen sich gegenseitig Fotos aus ihrer Heimat. Der eine stammt aus der Provinz in den USA und der andere aus einem Dorf in Island. Der eine würde gerne Hühner züchten und der andere ist Schafbauer. Wie beide auf ihre ganz gegensätzliche Art mit den Nackenschlägen des Lebens umgehen, zeigt die Arbeit von Kristofer Gudmundsson von der Uni Hildesheim. Mit den wenigen Holzlatten auf der Bühne und den beiden Darstellern entstehen immer wieder neue Bilderwelten auf der kahlen Bühne. Es werden Hütten gebaut, Barrikaden errichtet, Wälle gezogen und Verfolgungsjagden inszeniert. Quicklebendiges, hintergründiges Theater, das mit seinen kühnen Verknüpfungen provoziert und anregt.



Donnerstag
Was ist für dich Erfolg? Dazu haben alle der vier Performerinnen von Dummet Face aus Hildesheim ihre eigene Auffassung. Die eine will berühmt sein, die andere sich verwirklichen, die dritte davon leben können, die vierte auf Kampnagel spielen. Doch wie kommt man dahin? Aus eigenem Interesse starteten sie das Erfolgsprojekt mit einer Umfragerecherche zum Thema: Wodurch wird Erfolg begünstigt oder behindert? Da sich nur 77 Menschen auf der Homepage beteiligt haben, sollen nun die Zuschauer Auskunft geben. Ihr Jawoll-Fähnchen sollen sie schwenken, wenn sie der einen oder anderen Frage zustimmen. Das reicht von: Müssen Performerinnnen attraktiv sein, um Erfolg zu haben? Bis hin zu: Findet ihr uns attraktiv? Ratespielchen veranstalten die Vier untereinander: Welche Antwort hat ein bestimmter Experte auf folgende Frage zum Thema Erfolg gegeben? Finden die Vier das Engagement von einer von ihnen gerade mal nicht besonders erfolgsfördernd, dann schicken sie sie raus zu einer Strafrunde durch den angrenzenden Park. Das Video zum Schluss, das läuft während alle eine weitere Runde drehen, zeigt Abstürze von Skispringern, die zu hoch hinaus wollten. Die vier sympathischen Frauen haben ihrem eigenen künstlerischen Absturz mit viel Selbstironie vorgesorgt.



Potzloh ist zum schönsten Dorf gewählt worden. Stolz winken die zwei Dorfbewohner an der Bühnenrampe. Doch genau dieses Dorf ist auch der Ort einer grausamen Tat gewesen: Hier quälten drei junge Männer einen 16-jährigen Jungen grausam zu Tode. Alle vier kannten sich seit vielen Jahren.
Diesem Verbrechen spüren zwei junge Frauen nach: Anika Lehmann und Anne Noack schlüpfen in Der Kick in zehn verschiedene Rollen. Nach dem Bühnenstück von Andres Veiel wird Anika blitzschnell von der sanft sprechenden Mutter des Opfers zum sachlich verhörenden Kommissar. Anne spielt die Täter-Brüder: Den einen vornübergebeugt, den anderen um Haltung ringend kerzengerade. Sie zeigt auch deren Mutter: mit verschränkten Armen, nervös die Hände reibend, während Anika als Vater breitbeinig daneben sitzt.
Um den rasanten Szenenwechsel zu markieren, brauchen sie nur die Mittel Körpersprache und Duktus. Nur wenige Musikeinspielungen unterstützen die Stimmungsbrüche. Schnell wird klar, dass sich einfache Schuldzuschreibungen verbieten. Ausländerfeindlichkeit und DDR-Sentimentalismus bestimmen nicht nur bei der Täterfamilie sondern auch bei der Opfermutter die Sichtweisen. Einseitige Antworten verbietet dieses spannende Theaterstück. Wer die Vieldeutigkeit aushält, wird belohnt. Am Sonntag um 2o Uhr im Foolsgarden haben all diejenigen die Möglichkeit es zu sehen, die es heute leider verpasst haben.



Montag
Karl May will sein altes Ich, den herumvagabundierenden, kleinkriminellen Erzgebirge-Karl, unbedingt loswerden. Im Gefängnis erfindet er sich seine neuen Existenzen. Fortan lebt er in seinen Fantasiegestalten Old Shatterhand, Kara Bin Nemsi weiter. Auch Tom Ripley hat sich selbst neu erfunden. Ripley schlüpft in die Figur des erfolgreichen, charmanten Dickey. Diese beiden Herren begegnen sich in dem Theaterstück Bemudadreieck des Schauspielhauses Bochum. Nachdem sie beide ihren Werdegang auf dem Laufsteg in der Mitte des Zuschauerraumes beschreiben haben, beschimpfen sich gegenseitig an ihren Garderobentischen als Hochstapler und Lügner. Baumgarten hat für ihre Inszenierung zwei hervorragende Schauspieler gefunden. Im Schweiße ihres Angesichtes spielten sich in der Hitze des Saales im Haus 73 jeden Tropfen Wasser aus ihrem Leib.
Wer.. (binichich) im Terrace Hill nahmen die vier Geschwister die Ausgangssituation der Beerdigung ihrer Eltern zum Anlass über die eigenen Befindlichkeiten zu räsonieren. Das nutzte das Ensemble der Reckless Factory zum blödelnden, spaßigen Improvisieren über den Ursprungstext von..Nicht alle der Zuschauer konnten sich auf diese Zugangsform einlassen. Nach der Pause waren die Reihen deutlich gelichtet.
Dienstag
Was wären die Festival ohne das Glücksgefühl in dem reichhaltigen Programm ein besonderes Kleinod gefunden zu haben? India Simulator ist ein solches. Das Flinntheater mit Florian Hacke und Lisa Stepf ist al utopisches Accessementcenter angelegt, das die kulturelle Kompetenz von deutschen Führungskräften für den indischen Markt überprüfen soll. Die beiden spielen lustvoll mit den jeweiligen Klischees über Deutsche und Inder und entlarven sie in kurzen Spielszenen. Die Texte stammen dabei zum Teil von vier Indern. Die können über manche Eigenarten der Deutschen nur den Kopf schütteln: „Papier nutzen sie sowohl auf der Toilette, zum Schneuzen und für Verträge. Sie kommen ohne Familie zum Arbeiten in aller Welt. Heiraten tun sie erst, wenn sie alt sind.“ Eine kulturangepasste Realität sollte sich jeder Arbeitsmigrant besser für Indien zulegen. Zu große Ehrlichkeit führe nur zur übergroßer Verwirrung. Auch die Rezeption der historischen Figur „Hitler“ sorgt für gegenseitiges Unverständnis: In Indien steht mein Kampf auf der Bestsellerliste.
Ian McEwans Roman Der Zementgarten auf die Bühne zu bringen, ist eine große Herausforderung. Das Ensemble Lavie hat sie unter der Regie von Réne Rothe auf besonders einfühlsame Art gemeistert. Im Gegensatz zur Verfilmung von Andrew Birkin steht hier nicht der Inzest im Mittelpunkt des Interesses sondern die Analyse des gesamten familiären Beziehungsgeflechts. Sensibel werden die verschiedenen Rollen der einzelnen Geschwister beleuchtet. Wie die Älteste nach dem Tod der beiden Eltern den Part der Versorgerin übernimmt, wie der zweitälteste Jack heftig mit seinen Pubertätsaufwallungen zu kämpfen hat, wie der Jüngste sich gerne in die Rolle des Babys flüchtet und wie die Zweitjüngste sich mit ihrem Tagebuch in den Keller zurückzieht, alles zeigen die jungen Ensemblemitglieder. Zum Schluss liegen sie alle gemeinsam nackt und eng umschlungen auf dem Zementblock in der Mitte der Bühne: eine zusammengewachsene Gemeinschaft, die aus der Außensicht zwar merkwürdig und gestört wirken mag, aber aus der Innensicht eine ganz natürliche Entwicklung nahm.
.Mittwoch
Luzis Herz ist ein Reihenhaus, das von Eve ein Road Movie und das von Dora ein Businesspaper. Drei Frauen, drei Freundinnen, drei Lebensvorstellungen. Dennoch sind die Drei zusammen unterwegs. Auf der Rückbank ihres alten Mercedes haben sie einen seltsamen Reisegenossen: Luzis letzte Kneipen-Bekanntschaft –schwer verletzt. „Der Du“, wie sie den Unbekannten nennen, gibt den drei Singles ihr Gegenüber, das namen- und sprachlos bleibt. Denn die drei Frauen drehen hier ihren eigenen Film, stets auf der Flucht vor der Polizei erleben das abenteuerliche Leben pur. Sahar Amini hat eine komische, selbstironische Umsetzung für den Text von Julia Wolf gefunden. Vor der Holzwand dienen die drei Kisten mal als Hütte, mal als Autor, mal als Bett. Viola Pobitschka, Sabrina Tannen und die Ex-Hamburgerin Lisa Arnold sind grandios als die drei Freundinnen.
Nach einem Terroranschlag trät Marc die bewusstlose Louise in seinen Bunker. Mit einigen Dosen Proviant versehen wollen sie die nächsten Wochen überstehen, bis sich die Lage „draußen“ geklärt hat. „Wir sind Freund – absolut!“, versichert Louise. Doch genau das sind sie nicht: der unbeholfene Marc und die überall bewunderte Louise. Dennoch zwingt sie diese Notsituation zu einer Nähe, aus der es kein Entrinnen gibt. Der durchgeknallte Kontrollfreak Marc entspinnt seinen faschistischen Gesellschaftsfantasien, denen Louise nicht ausweichen kann. Ist das System der lächelnden Louise draußen gerade in Flammen aufgegangen? Oder spielt Marc nur ein perfides Spiel mit ihr? Dennis Kelly hat mit „After the End“ ein beklemmendes Stück geschrieben. Katrin Lindner hat es auf den Punkt genau inszeniert. Das Kino im Kopf des Zuschauers lässt sie in den Blacks geschickt viel Raum.



?Thematisch gab es keine Vorgaben für die Teilnahme am Festival in den vier Gruppen. Die einzige Bedingung war die Zugehörigkeit zu der Gruppe des „jungen Theaternachwuchs“. Dennoch fällt auf, dass Klassiker bei den von den jungen Theatermachern in der Sektion „Kaltstart Pro“ ausgewählten Stücken wenig angesagt waren. Stücke junger (Theater)-Autoren standen dagegen hoch im Kurs. In der Untergruppe „Fringe“ war die freie Szene vertreten. Hier drehten die Inszenierungen und Performances um die Themen: ??


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