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Tanzend dem Untergang entgegen
Wir leben in einer Welt, die vom Kapital und Konsum bestimmt ist. Es gibt eine Flüssigkeit, die zu dessen Antrieb unverzichtbar geworden ist: Zum Antriebmittel der Moderne ist das Erdöl geworden. Doch hat es nicht ebenso viele zerstörerische wie antreibende Komponenten? Diese wollte Erna Ómarsdóttir in ihrer Arbeit „Black Marrow“ untersuchen.
Aus einer glänzenden schwarzen Oberfläche erheben sich kleine Hügel. Wie blubbernde Blasen wabern sie zunächst am Rand herum, bis sie in die Mitte des Raumes wandern und sich zu kleinen Bergen erheben. Aus der Landschaft kriechen Wesen hervor, nur mit hautfarbener Unterwäsche bekleidet sind. Welcher Art diese Wesen sind, erkennt man zunächst nicht, sie scheinen nur aus Rücken mit Armen und Beinen zu bestehen, ohne einen Kopf. Erst als sich ganz eng zu einem Haufen zusammenschmiegen, wagt einer von ihnen seinen Kopf und sein Gesicht zu zeigen. Allmählich ziehen die anderen nach. Man tastet sich in Aufrechte vor. Dass diese nun des Gehens mächtigen Männlein und Weiblein sich gegenseitig erkennen und ihre Sinnlichkeit entdecken, wird in den darauf folgenden Szenen deutlich. In orgastischen Gemeinschaftserlebnissen, in denen der befreiende Schrei zelebriert wird, scheint ein weiterer wichtiger Baustein des Menschseins gefunden worden zu sein. Während die Elektrosounds von Ben Frost bis hierhin die treibende und untermalende Begleitung ihrer Erkundungen gewesen sind, so brüllt jetzt der Popsong: „You have to pump it up!“ aus den Boxen. Der Mensch wird zur Maschine. Ob in Fitnessgeräten oder an den Fließband der Fabriken scheint dabei nebensächlich. Er ist eingespannt in den Takt der mit Erdöl oder von ihm selbst angetriebenen Maschinen. Die schwarze Folie hinter ihm schlägt derweil hohe Wellen. Einzelne wagen sich vor und scheinen über das Wasser laufen zu können. Dem Menschen scheint alles beherrschbar.
Doch der schöne Schein trügt. Zum Schluss ist der glänzende Boden weggezogen und übrig bleibt eine glitschige schwarze Brühe, auf der die Menschen sich nur mühsam in der Aufrechten halten können. Immer wieder rutschen sie zur Seite weg, richten sich gegenzeitig wieder auf, bis sie wieder bei dem nächsten Schritt hinfallen.
Ómarsdóttir ist wieder einmal ein Atem beraubender Abend gelungen. Nie langweilig, wagemutig, voller überraschender Bilder, mit gesellschaftspolitischen Impetus und mit hervorragenden Tänzern, die keine Anstrengung scheuen. Ein zu Recht bejubelter Abend.
Birgit Schmalmack vom 30.11.15
Abbildung: Black Marrow - (c) Bjarni Grimsson
Die Antikörper einer kranken Gesellschaft
Sie seien wie Antikörper, die eine Gesellschaft, die krank geworden ist, als natürliche Gegenwehr produziere. So sieht es einer der Ermittler, die die immer brutaler werdenden Gewaltexzesse zwischen den Antifaschisten und den Neonazis in St. Petersburg verhindern sollen. Diesen ist ein junger Mann zum Opfer gefallen. Timur Katscharawa wurde im September 2005 in St. Petersburg von einem Neonazi niedergestochen, während ein Sicherheitsbeamter daneben stand und zuschaute. Der Täter Pascha gestand seine Tat sofort.
Der Journalist Andrej Sowlatschkow führte Interviews mit dem Umfeld von Täter und Opfer. Regisseur Michail Patlasow hat daraus ein Stück geschaffen, in dem nur die Originalzitate der Interviewpartner benutzt werden. Auf der Bühne werden dazu Räume aufgebaut, in denen die Interviewten ihre Sicht wieder geben können. Sie werden dabei gefilmt und ihre Gesichter auf eine der Wände projiziert. Damit wird Distanz und Nähe, Innen- und Außenperspektive, aber auch Überblendung möglich. Das ist besonders interessant, wenn sich die Aussagen von Timurs Mutter und Paschas Mutter überschneiden.
Patlasow hat aus diesen Elementen einen so vielschichtigen Abend geschaffen, dass am Ende die Zuschauer in beeindruckter und nachdenklicher Stille verharren anstatt zu applaudieren. Das Stück stellt sich auf keine Seite, es versucht darzustellen, es fällt kein Urteil und bietet dennoch eine Vermutung an: Nutzt der Staat jugendliche Rebellionsideen für seine Interessen aus?
Eine nicht nur politische sondern auch dramaturgisch und inszenatorisch inspirierende Arbeit ist dem Team hier gelungen. Wie hier mit schnellen Schnitten, ruhigen Momenten, geschickten Zusammenstellungen, Kombination von eingesetzter Kamera und direktem Spiel, Ineinandergreifen von Dokumentation und Interpretation unaufgeregt gearbeitet wurde, dafür bekam die Inszenierung zu Recht 2013 den Preis für die beste kleine Produktion. Toll dass sie im Rahmen des Nordwindfestivals auf Kampnagel zu sehen war. Auch für die deutsche Gesellschaft eine eindrucksvolle Spurensuche, denn die anschließende Frage des Regisseurs, ob es solche Entwicklung auch in Deutschland gebe, vorschnell zu verneinen, fällt in Zeiten von Pegida-Hassparolen schwer.
Birgit Schmalmack vom 30.11.15
Abbildung: Antikörper auf dem Nordwindfestival - Foto: Baltic house
Wahres Verständnis möglich?
Übersetzungen können entscheiden über Leben und Tod. Das müssen immer wieder Asylsuchende erfahren. Wenn sie an einen Übersetzer geraten, der nicht in der Lage ist, die Feinheiten ihrer Geschichte zu übersetzen, kann das zu ihrer Ablehnung und zur Abschiebung führen. Doch kann es überhaupt eine korrekte Übersetzung geben? Schwingen nicht stets so viele nicht übersetzbare Aspekte in jeder Fluchtgeschichte mit, die keine Entsprechung in der Sprache des Ankunftslandes finden? Diese Frage stellte sich die Regisseurin Olga Jitlina. Sie lud fünf Flüchtlinge aus Hamburg ein, eine Geschichte, die ihre eigene hätte sein können, auf Kampnagel in „Translation“ vorzutragen. Hierfür wählte sie bewusst literarische Vorlagen aus und betritt damit die erste Übertragungsebene. Die zweite kommt hinzu, indem sie selbst kleine Erinnerungsschnipsel der Flucht auf den OHP legt: Zeichnungen, Notizen, Bilder werden zu einer möglichen Fluchtcollage. Die dritte Ebene ist die der Musik. Sie wählt Arien und klassische Lieder, um durch eine in europäischer Klassik geschulte Sopranistin die Gefühle der Flüchtlinge näher an eine europäische Gesellschaft heranzuführen.
Die Fragen des Anhörungsbeamten scheinen nur den deutschen behördlichen Vorgaben zu entsprechen. In Wirklichkeit sind auch sie in eine Künstlichkeit transferiert, die stets eine Spur neben der Realität liegt.
Olga Jitlinas Abend machte für die Zuschauer nachfühlbar, wie schwierig gelingendes Verständnis ist. Wenn keine der zahlreichen Verständigungsebenen einen echten Bezugsrahmen darstellt, fängt alles an zu schwimmen. Das war natürlich beabsichtigt, aber erschwerte durch den hohen Grad der Künstlichkeit auch zugleich ein tieferes Verständnis für die persönlichen Schicksale.
Birgit Schmalmack vom 7.12.15
Abbildung: Translation by Olga Jitlina -
Eindeutige Botschaften
Sie befände sich in einer sexuellen Identitätskrise, sagt sie zu ihrer Entschuldigung. Denn Teena Brandon ist im Körper einer Frau geboren und wäre doch so gern ein Mann. Und das ausgerechnet in der tiefsten amerikanischen Provinz, wo man eigentlich die klaren Regeln in der Gesellschaft schätzt. Teena wird es nicht leicht gemacht. Ihre Mutter lehnt sie ab, sie wird immer wieder bei kleinen Straftaten erwischt und verdrückt sich schließlich vor einer Gerichtsverhandlung in den Nachbarstaat. Hier lernt sie als Mann schnell ein scheinbar unkomplizierte Gruppe von jungen Leuten kennen. Doch bald wird klar, dass die genügend eigene Probleme haben: prekäre Jobs, grenzenlose Langeweile, Flucht in Drogen und Alkohol, Erfahrung mit Knast, Gewalt oder ungewollten Schwangerschaften. Der „white trash“ lässt grüßen. Eins der Mädchen verliebt sich in Brandon, der so anders ist als die anderen Macho-Männer. Als ihr Bruder erfährt, dass er in Wirklichkeit ein Mädchen ist, greift er zu drastischen Strafmaßnahmen.
Die dänische Theatergruppe Mungo-Park hat in nur zwölf Probentagen den Film „Boys don’t cry“ nach der tatsächlichen Geschichte von Teena Brandon auf die Bühne gebracht. Sie orientieren sich dabei stark an den filmischen Mitteln. Die Emotionen sollen hochkochen und eins zu eins dem Publikum nahe gebracht werden. Dafür werden alle Sexszenen auf der Bühne direkt vor den Zuschauer live in Szene gesetzt. Der Abstraktion traut Mungo Park als Mittel eher weniger. Sie setzen auf Naturalismus und nackte Tatsachen. Hier wird geschrien, gekämpft, gefickt und vergewaltigt in Echtzeit. Bei Mungo Park sucht man keine Bilder für das Auszudrückende sondern zeigt das Geschehene einfach drastisch und direkt. Klare Botschaften soll ihr Stück vermitteln. Dabei schaffen es speziell die Darstellerinnen von Lana und Brandon auch die Verletzungen ihrer Psyche für kurze Momente aufblitzen zu lassen. Dieser Produktion hätte man jedoch weniger Mut zur Provokation als vielmehr zur Differenzierung, Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit gewünscht.
Birgit Schmalmack vom 7.12.15
Abbildung: Boys don't cry - © Natascha Thiara Rydvald
Das Rätsel der Leningrader Symphonie
Die Erstaufführung der Siebenten Symphonie von Schostakowitsch fand im von den Deutschen belagerten Leningrad statt. Bis heute schwankt die Rezeption dieser Musik von einem „Aushängeschild für die sowjetische Musik unter Stalin“ bis hin zu „versteckter Systemkritik mit kodierten Botschaften des Widerstands gegen die kommunistische Tyrannei“. In dieser emotionalen und ideologischen Gemengelage versuchen drei junge finnische Frauen von heute ihren „Personal Symphonic Moment“ unter Leitung der Choreographin Elina Pirinen zu finden.
Der beginnt erst einmal in völliger Dunkelheit. Nur die Musik erklingt aus den Lautsprechern, bis die drei Grazien aus einer Nebelwolke heraus die Bühne beschreiten. Doch so pathetisch bleibt es nicht lange. Die drei Frauen spritzen sich und ihre schicke pastellfarbene Kleidung mit Farbbeuteln (aber immerhin farblich genau passend zum Dress) voll. Sie springen in die Luft, robben auf dem Boden herum, klatschen sich auf die nackten Hintern oder ziehen sich an den Brustwarzen durch den Raum. Sie scheuen vor keiner noch so genderpolitisch unkorrekten Geste zurück. Denn hier sind Postfeministinnen am Werk, die sich frei und unanhängig von solchen Grenzziehungen bewegen. Sie agieren ganz nach eigener Lust und Laune. Mal tragen sie passende Blumen herein, mal Mausefallen oder Schneidbrenner. Niedlich sind diese Frauen nur, wenn ihnen gerade danach ist. Weder zueinander noch zu den Zuschauern. Diesen Frauen traut mal alles zu. Gerade haben sie noch lieb gelächelt, jetzt richten sie die Sprühdose auf die Zuschauerreihen. Die eine Performerin drückt aufs Knöpfchen und heraus kommen: Luftschlangen! Diese Show schwankt zwischen Ekel und Erotik, zwischen Provokation und Schönheit. Alles was frau will, scheint erlaubt. Für die Zeit der Selbstinszenierung zumindest. Solange die Symphonie erklingt, gibt es keine Selbstbeschränkung. Frau darf mit Schmerz, Schönheit, Dreck und Harmonie spielen. Die Musik eröffnet mit ihrer Theatralik und Dramatik den Raum für eine Spielwiese der Selfie-Events. Doch noch bleibt es ein Traum, denn sobald die Musik verklingt, verschwinden die drei Frauen im Nebel und im Gegenlicht so, wie sie gekommen sind. Nur die verschmierte Bühne zeugt dann noch von ihrem Selbstermächtigungsspiel.
So setzen die drei Frauen in die Tat um, was Alain Badious in seinem Vortrag „From Logic to Anthropology“ gefordert hat: Er wünschte sich Events, in denen sich das Subjekt Momente der Öffnung erschließen könnte. In diesen wiederum würden sich neue Möglichkeiten zu einem kreativen Prozess auftun, der jenseits von bloßer Negation den Anfang jeder notwendigen Veränderung gegen die bestehenden Verhältnisse bilden würden.
Der Tänzer Tilman O`Donnell ist mit seiner Choreographie zunächst weit von einem Event entfernt. Entgegen dem Uhrzeigersinn beschreibt er seine Kreise unter der Leinwand, auf der Badious spricht. Er demonstriert zwar die große Vielfalt seiner Bewegungskreativität, aber aufgrund seiner eng gesetzten Rahmenbedingungen wirken sie fast gleichförmig. Doch als Badious von dem nötigen Event spricht, läuft ein weiterer Performer einmal quer durch den Raum, und zwar als dicker Mann verkleidet. Erst danach kann O`Donnell seine Kreisbahn durchbrechen, aber nur insoweit, dass er jetzt gegen den Uhrzeigersinn seine Bewegungsmuster auf den Boden malt. Er interpretiert und ironisiert damit Badious zugleich. Als kreativer Eventbringer ausgenutzt zu werden, nein, darauf lässt sich dieser Künstler nicht reduzieren. Als hintergründig, intelligent und ironisch Hinterfragender aber stellt er sich anscheinend gerne zur Verfügung.
Birgit Schmalmack vom 6.12.15
Abbildung: Personal symphonic moment - © Timo Wright