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Sommerfestival 2015, Kampnagel

Western Society


Western Society


Eine Million und ein paar tausend Jahre brauchte es und aus Adam und Eva ist eine Familie geworden, die ihr unspektakuläres Familienleben auf Youtube ausstellt. Dort finden es 2015 Gob Squad und machen aus dem gut zweiminütigen Video eine Abend füllende Performance. Intelligent wie sie sind, haben sie schon nach kurzer Zeit mitbekommen, dass sie nur vier sind und auf dem Video aber mindestens sieben Familienmitglieder zu sehen sind. Also bieten sie kurzerhand einigen Zuschauern den Eintritt zum goldenen Zeitalter der „Western Society“ an. Damit dies allerdings keine peinliche Angelegenheit wird, werden die Gäste auf der Bühne per Kopfhörer stets genau darüber instruiert, was sie zu tun haben. So können hier ungehindert die wichtigen Fragen des Lebens verhandelt werden. Bist du für Irak oder Iran, wirst du lieber gefickt oder fickst selber, bist du für Natur oder Arbeitsplätze? Aber auch: Was zeichnet eine Familie aus? Was ist für dich Glück? Muss man sich etwas zu sagen haben, um miteinander eine gute Zeit zu verbringen?
Der Abend ist wie ein nettes Beisammensein mit guten alten Bekannten. Manchmal wird einfach geschwiegen, dann banales Zeug geredet, ein Partyspiel gespielt, viel gegessen und plötzlich gibt jemand etwas von sich preis und die Gesprächrunde wird ernst. All das erzeugen Gob Squad und die vier souveränen Performer auf der Bühne mit einer Leichtigkeit und Spontaneität, dass sich jede Frage nach dem „Was machen wir hier eigentlich“, die sich die Vier auf der Bühne am Anfang noch stellten, erledigt hat: Wir haben einfach eine gute Zeit miteinander.
Birgit Schmalmack vom 19.8.15

Abbildung: Western Society - von David Baltzer

Available Light

Available Light

Hier ist keiner der Star. Eine Prima Ballerina – Fehlanzeige! Auch wenn einige der Tänzer zeitweise exponiert auf der zweiten Ebene tanzen dürfen, haben sie stets die gleiche Aufgabe wie die auf der unteren Ebene. Auch wird keine Geschichte erzählt. Es gibt nicht einmal eine Entwicklung im Abend, die zu erkennen wäre. Lucinda Childs dachte 1983 mit ihrer Choreographie „Available Light“
das Ballet neu. Sie stellte es nicht nur in einen abstrakten Rahmen, sondern nutzte seine Bewegungsformen für völlig abstrakte Tanzbilder. Sie hatte dafür zwei veritable Mitsteiter: John Adams schuf die minimalistische Musik, die Childs Abend die Struktur gab. Frank O. Gehry entwickelte das zweigeteilte Bühnenbild, indem er eine zweite Ebene auf eine Fachwerkkonstruktion stellte.
Der Abend lebt von Wiederholung, Variation und Doppelung. Genau wie in der Musik scheinen sich die Motive im Tanz nur minimal zu verändern. Kaum wahrnehmbar ändern sich die Sprung-, Schwung- und Schrittkombinationen im Laufe des Abends. Immer tanzen mindestens zwei aus dem Ensemble nach dem gleichen Muster. Die Bewegungen haben nichts Spektakuläres. Sie könnten alle im Rahmen einer täglichen Balletübungsstunde vorkommen. Mit ihrer Verweigerung der üblichen Erwartungen an einen Tanzabend hat Childs sicher in den Achtzigern Neues gewagt, doch heute wirkt der Abend so unaufregend, dass sich hier und da Langeweile am Eröffnungsabend in den Zuchauerreihen ausbreitete.
Birgit Schmalmack vom 15.8.15

Abbildung: Available Light - Foto: Craig T. Mathew (2015)

Bound to hurt

Bound to hurt

Das Paillettenkleid ist abgestreift, die High Heels ausgezogen und die Perücke abgesetzt. Wehrlos kauert die Frau unter dem Bettlaken wie unter einem Kokon, der ihr doch keinen Schutz bieten wird. Gerade noch hat sie mit opernhaften Virtuosität von der Liebe gesungen. Gerade eben stand sie noch aufrecht unter der Partybeleuchtung. Jetzt windet sie sich nackt unter dem weißen Laken. Die besungenen Küsse sind zu Schlägen geworden. Jäh schlug der Perkussionist mit seinem Kopf auf die Trommel und beendete unmissverständlich den Wohlklang des eingängigen Popsongs. Jäh machte die kreischende Lautstärke der elektrisch verstärkten Streichinstrumente klar, wie dicht Liebe und Hass, wie nah Intimität und Gewalt liegen. Regisseur Douglas Gordon lässt die großartige Ruth Rosenfeld durch dieses häusliche Martyrium gehen. Philip Venables hat dazu die Popsongs mit dem hervorragenden Ensemble Adapter gegen den Strich gebürstet. Wiegt er den Zuhörer zunächst noch in der Sicherheit der eingängigen Melodien, so haut er ihm kurze Zeit später mit aller Wucht die Brutalität des Umschlagens in Gewalt um die Ohren. Da helfen auch die Ohrstöpsel nicht. Diese Musik schlägt direkt in die Magengrube.
Die Idee ist interessant, die Umsetzung auf der Bühne virtuos, doch die Botschaft der Bilder ist zu schnell verstanden. So konzentriert man sich auf die Musik und erlebt einen innovativen Konzertabend.
Birgit Schmalmack vom 15.8.15

Abbildung: Bound to hurt - Foto: Kerstin Behrendt

Bianca Casidy

Bianca Casidy

Umgekehrt waren die Vorzeichen für die Show von Bianca Casidy gesetzt. Hier stand von Anfang an klar die Musikerin im Vordergrund, auch wenn sie sich zunächst am Seitenrand an ihrem Mikro festhielt. Die Filmprojektionen und der Tänzer waren Beigaben, die die Botschaften von Casidy umso deutlicher hervorhoben.
Ihr geht es um das Spiel mit der Verkleidung, mit der Identität und mit den Geschlechterrollen. Sie lockt ihre Zuhörer immer wieder auf falsche Fährten. Mal gibt sie das elfenhafte Mädchen, dann tritt sie ihre eigenen Rhythmen mit energischem Stampfen in den Boden. Ihre mädchenhaft hohe Stimme nutzt sie gerne für Täuschungsmanöver, um dann umso härtere Beats von ihrer Band The C.i.A. einzufordern. Ihr Kettengerassel macht es deutlich. Hier will sich jemand jeglicher Fesseln entledigen. Sei es von festen Rollen- oder Genrezuschreibungen. Hier spielt jemand gerne mit allen verschiedenen Facetten. Der Tänzer Biño Sauitzvy spielt dazu wahlweise den Clown, den Travestiekünstler, den Gefangenen oder den Stripper. Oft stiehlt Casidy ihm jedoch die Show. Ihre eigenen stampfenden und schaukelnden Bewegungen im durchscheinenden weißen Kleid erzählen viel eindrücklicher von ihrem Kampf gegen die Begrenzungen des Lebens. Der Funke sprang bei manchen im Publikum nicht über. Sie hatten wohl eher die Musik von CocoRosie erwartet und waren von der versponnnen Künstlichkeit, die hier in Szene gesetzt wurde, überfordert.
Birgit Schmalmack vom 18.8.15

Abbildung: Bianca Casidy - Foto: Kerstin Behrendt

Zur Kritik von

Spiegel-online
Spex
Deutschland Radio Kultur
Welt

CCN-Ballet de Lorraine



Spitze trifft Ausdruckstanz

Das CCN-Ballet de Lorraine will zugleich Ballettgeschichte schreiben und dokumentieren. So zeigten sie bei ihrem Gastspiel auf dem Sommerfestival drei Stücke: eines von heute, eines aus den Neunzigern und eines aus den Siebzigern.
Spitzentanz wird nur in dem allerjüngsten von Cecilia Bengolea und Francois Chaignaud „Devoted“ (2015) benutzt. Zur Musik von Philip Glass scheinen die Tänzerinnen zu Tanzmaschinen zu mutieren, die sich wie Aufziehpuppen blitzschnell um ihre eigene Achse drehen, minutenlang regungslos auf ihren Zehenspitzen stehen oder immer wieder in den Bodenspagat springen können. Sie werden zu Tanzrobotern, wenn da nicht ab und zu jemand aus der Reihe tanzen würde. Plötzlich mischen sich unter das Vokabular des klassischen Balletts Motive des Ausdrucktanz, Voguing und Dance Hall. So beeindruckt "Devoted" nicht nur durch technische Perfektion sondern bezieht seine Spannung aus den überraschenden Brüchen.
Das “Duo” von William Forsythe aus dem Jahre 1996 zur Pianomusik von Thom Willems ist dagegen ganz zurückgenommen und lebt von der perfekten Übereinstimmung der beiden Tänzerinnen. Wenn sie sich wie schlafend am Boden wälzen, wenn sie sich gegenseitig mit ihrem Atem den Takt vorgeben, wenn sie sich kontrapunktisch oder im Gleichklang bewegen - immer ist eine Zartheit und Anmut zu spüren.
Ein Wirbelwind entfacht dagegen „Sounddance” von Merce Cunningham aus dem Jahr 1975 . Trotz des überaus strapaziösen Soundteppichs von David Tudor wirbeln die Tänzer mit fulminanten Schwung durch den Goldvolantvorhang auf die Bühne, um-, über- und untereinander herum, dass es eine Schau ist. In immer wieder neuen Konstellationen werden die Tänzer zu einem goldenen Energiestrang. Avantgarde sieht wahrscheinlich anders aus, aber diese drei Stücke zeigten ein Stück Tanzhistorie und belegten, wie brillant das CCN in allen Stilarten ist.
Birgit Schmalmack vom 23.8.15

Abbildung: CCN Ballet - Foto: Arno Paul

Ful & The Knife Europa Europa


Keine Grenzen, keine Nationen

Sie waren nur vor Krieg und Hunger geflohen. Sie waren unter unheimlichen Strapazen und Gefahren aufgebrochen, um Schutz in einem anderen Land zu suchen. Doch hier empfing man sie nicht etwa als Helden sondern als Kriminelle, Lügner und Illegale. Aber heute wollen sie sich endlich feiern lassen, vom Hamburger Publikum auf Kampnagel.
Alle Frauen alle sind einst nach Schweden geflohen. Haben es trotz Stacheldrahtzäunen, meeruntauglichen Booten, sexueller Belästigung, Hunger, Behördenwillkür und Kriminalisierung nach Europa geschafft. Sie sind hier! Unübersehbar leuchten ihre prunkvollen Kostüme ebenso so wie die bunt illuminierte Bühne. Die Rhythmen von „The Knife“ geben den passenden Sound zum Showauftritt. Agit Pop in seiner schmissigsten Form bietet der Abend „Europa, Europa!“ So lange hämmern die Performerinnen ihren Zuschauern ihre Botschaften ein, bis sie sie zum Schluss mitrufen können: „Keine Grenzen, keine Nationen!“ Ein charmanter Abend voller persönlicher Offenheit, Mut zu klaren Standpunkten und mitreißender Frauenpower.
Birgit Schmalmack vom 23.8.15

Abbildung: Ful & The Knife - Foto: Patriez van der Wens

Orchesterkaraoke

Orchesterkaraoke
Matthias von Hartz ist zu Hause angekommen. Für ihn ist diese Show in Hamburg ein Selbstgänger. Viel zu erklären braucht er als Moderator nicht: Der Name ist Programm.
So werden zu "Ruby Thuesday" gemeinsam die Stimmen angewärmt, um dann einerseits den religiösen Schwerpunkt mit "Personal Jesus", "Like a Prayer" und "Halleluja" zu setzen und anderseits mit "Westerland", "Darf Punk" und "Major Tom" Schwung in den Abend zu bringen. Bis mit "I did it my way" gemeinsam das Ende eingeläutet wird, hat die analoge Karaoekemaschine Jan Wulff kleine Diskokugeln, Raketen und Fische auf seinem Projektor auftauchen lassen, während er seinen Finger über die Textzeilen schob. Kleine Hilfestellungen und Aufmunterungen waren sowohl von ihm wie auch dem Orchesterleiter Jan Dvorak jederzeit zu erwarten. Doch geschenkt bekamen die Mutigen ihren Erfolg nicht: Das Programm aus den zehn möglichen Stücken war anspruchsvoll. Wie immer half der volle Kampnagelsaal den Sängern und Sängerinnen über eventuelle Klippen hinweg. Immer wenn kleine Unsicherheiten zu hören waren, schwoll der Saalchor an, um dann wieder leiser zu werden, wenn die tollen Stimmen genossen werden wollten. So gingen alle beschwingt nach Hause. Ein toller, ganz unbeschwerter Abschluss des Sommerfestivals.
Birgit Schmalmack vom 23.8.15

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