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Mutter und Tochter – eine unheilvolle Kombination
„Ich muss lernen zu leben, ich übe jeden Tag.“ Eva hat sich mit ihrem zwanzig Jahre älteren Mann in dem einsamen Pfarrhaus eingerichtet. Sie hat sich ihre Wirklichkeit erschaffen, um darin leben zu können. Von ihrem Kind kann sie keiner mehr trennen. Knapp vierjährig ist es bei einem Unfall gestorben, seitdem ist sie ihm so nah wie keinem anderen Menschen. Ihr Mann dagegen hockt in seinem kleinen Arbeitszimmer und betrachtet immer wieder die alten Dias von ihrem verstorbenen Sohn.
So nah wie ihrem Sohn ist Eva ihrer eigenen Mutter nie gekommen. Die große Pianistin war stets auf Tournee, wenn sie sie brauchte. Ihre strahlende Erscheinung setzte alle übrigen Familienmitglieder unter Druck. Eva fühlte sich unter ihrem Blick hässlich, ungeschickt und unzureichend. Der Vater schien auf ein Mittelmaß herabgestuft. Sogar die Erkrankung der Schwester Helena führt Eva auf die Hartherzigkeit der Mutter zurück. Muss das Unglück der Mutter das Unglück der Tochter sein? Ist das Unglück der Tochter der Triumph der Mutter?
Sieben Jahre haben sie sich nicht gesehen. Anlässlich des Todes von Charlottes Lebenspartner lädt Eva ihre Mutter zu sich in ihr Pfarrhaus ein. Die Mutter rauscht als Diva in weißem Hosenanzug herein, bezieht eines der auf der Drehbühne aufgestapelten Zimmerkästen. Alle mit altmodischer Tapete, ausgestopften Tieren, aufgehängten Kreuzen und wenig Freiraum. Die Treppen und Emporen haben keine Geländer, die Figuren bewegen sich stets nah am Abgrund. Als Eva bei nächtlichen Disput abstürzt, macht ihr ihre Mutter behende vor, wie man sich aufrichtet und wieder hinaufklettert. Doch kurze Zeit später krümmt sich Charlotte in tränenreichem Schmerz; auch sie hatte eine Mutter, deren Päckchen sie vererbt bekam.
Zum Schluss reist die Mutter wieder einmal vorzeitig ab. „Ich sehne mich immer nach einem Zuhause, doch wenn ich dann da bin, merke ich, dass es das nicht ist“, erkennt sie. Und ihre Tochter schreibt gleich darauf schon wieder einen neuen Brief an ihre Mutter: „Ich gebe die Hoffnung nicht auf!“
Die Verstrickung, in die Mutter und Tochter hineingeboren werden, ist unauflöslich. Auch nach der Durchtrennung der Nabelschnur bleiben sie miteinander verbunden, ob sie nun wollen oder nicht. Die Folgeschäden wirken nach. Keiner entkommt ihnen, auch nicht bei noch so geschickter Verdrängung.
Ingmar Bergmanns legendären Film „Herbstsonate“ hat Regisseur Jan Bosse für die Bühne inszeniert. Dank seiner beiden Hauptdarstellerinnen gelingt ihm ein eigener Zugriff. Fritzi Haberlandt ist die spätpubertäre Tochter, die sich in die Auseinandersetzung mit ihrer übergroßen Mutter stürzt, um endlich ihren Frieden zu finden. Corinna Harfouch dagegen leidet hauptsächlich an sich selbst. Ihre Empathie hat enge Grenzen. Das Leid der anderen kann sie nur durch der Folie ihres eigenen Unglück sehen. Während ihre Tochter die Beständigkeit und die Auseinandersetzung sucht, ist für sie die Flucht in die Ferne immer eine Option. Bosse zeigt das Pfarrhaus als Spukschloss, in dem die Gespenster der Vergangenheit, der verdrängten und unterdrückten Sehnsüchte, Schmerzen und Begierden erwachen und herumspuken. Das Spinnennetz der gegenseitigen Verstrickung aus Schuld, Vorwürfen und Erwartungen wird im Tau der Nacht sichtbar. Ein starkes Gastspiel des Deutschen Theaters im Rahmen der Hamburger Theaterfestivals.
Birgit Schmalmack vom 8.10.15
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