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Wenn die Uneindeutigkeit regiert
Der König und sein Schatten schleichen gebückt in dem weißen geschlossenen Raum auf der abschüssiger Schräge an der Wand entlang. Das ist kein strahlender mächtiger Regent eines großen Reiches mehr, das sieht man sofort. Er hat seine Kraft schon lange verloren, dafür will er jetzt aber unbedingte Liebe haben, und zwar von seinen drei Töchtern vor aller Öffentlichkeit. Zwei davon liefern das Gewünschte sofort ab, wohl wissend dass sie dafür reich belohnt werden: mit einem Teil des aufzuteilenden Reiches. Doch die dritte, die jüngste, kann diese Heuchelei nicht liefern. Sie sagt einfach die Wahrheit und wird sofort enterbt. Dieser König ist scheinbar nicht nur alt sondern auch blind für die wahren Beweggründe seiner Mitmenschen. Wie zum Beweis dessen entlässt und verbannt er auch gleich noch seinen treuer Berater Kent, weil er der ihn auf seinen Irrtum hinweisen möchte.
Es gibt noch eine weitere Vater-Kinder-Konstellation in Shakespeares "King Lear", in der die Lüge ebenfalls zu einem Fehlurteil führt. Auch hier fällt ein Vater (Ernst Stötzner) auf die Lügen eines seiner Kinder herein. Der uneheliche Sohne Edgar bezichtigt seinen Halbbruder des Mordgelüstes an dem Vater und dieser glaubt dies ohne weitere Recherche. Verstoßen und Enterben sind auch hier die Folge. Regisseurin Karin Beier (und Intendantin des Schauspielhaus Hamburg) interessieren an diesem Stoff aber weniger die Vater-Kind-Beziehungen als vielmehr die Auswirkungen ihres Verhaltens auf die Gesellschaft und den Staat. Die unhinterfragte Täuschung durch die Fake News der Kinder führen zur Auflösung der Normen und Regeln.
Edgar Selge ist dieser König Lear, seine jüngste Tochter und sein Narr wird in einer Doppelrolle von Lina Beckmann gespielt. Um dieses Darsteller-Dream-Team arrangiert Karin Beier viele weitere kompetente Schauspieler. Da die Geschlechtergrenzen heutzutage verwischen, besetzt sie die beiden heuchlerischen Töchter mit zwei Männern (Samuel Weiss und Carlo Ljubek) und lässt den unehelichen Sohn Edmund von einer Frau (Sandra Gerling) spielen. Die Uneindeutigkeit nicht nur in den Geschlechterzuschreibungen soll einfache Interpretationen in Frage stellen. Dieser König ist per se kein Guter, der ohne eigenes Zutun hinters Licht geführt wurde. Er will getäuscht werden. Er teilt sein Land nach dem Grad des besten Heuchelns auf. Da kann das Volk jedes Vertrauen in gute Herrschaft durch seinen König verlieren. Die Folge, die Shakespeare hier klar vor Augen führt, ist der Wahnsinn. Den macht Beier sehr klar: Sie lässt sowohl den König wie den enterbten Sohn Edgar als zwei wahnsinnig Gewordene ohne jeden Schutz durch Kleider auftreten.
Beier spickt den Abend mit einer Vielzahl an politischen Bezügen. Edmund steht für die radikale Machtübernahme durch die Jungen und die gandenlose Aussortierung der Alten. Kent will dagegen die Konstituierung der alten Machtverhältnisse. Der Edgar plädiert für das Ende von Grenzen und Nationen, da sie ihre Berechtigung verloren hätten.
Beier entwirft eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten. Diese Uneindeutigkeit verzichtet auf eine klare Linie in dieser Regiearbeit, aber auch auf die provozierende Auseinandersetzung, die sie mit ihren früheren Inszenierungen stets hervorrief.
Birgit Schmalmack vom 22.10.18
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