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Der Idiot, Thalia

Ein wahrhaftiger Mensch ist ein Idiot



"Du bist der einzige Mensch, den ich kenne." Das hört Fürst Myschkin (Jens Harzer) immer wieder. Seine Naivität macht ihn zum einzigen Menschen unter all den Gecken, die diese Gesellschaft hervorgebracht hat. Die in dieser mit all ihren Lügen, Pseudogeständnissen und Tricksereien ihr Auskommen suchen. Aus einem Sanatorium in der Schweiz kommt er zurück in seine Heimat. Glücklich sei er dort gewesen, still habe er dort manche Nacht einem Gebirgsbach gelauscht und seinen Frieden gefunden. Welch ein Kontrast zu der Welt, in die er jetzt zurückkehrt. Staunend wie ein Kind, mit offenem Mund schaut er den Menschen zu, die er nun trifft. Er ahmt sie nach, läuft ihnen hinterher, plappert von seinen Erlebnissen, versucht Eingang zu finden in diese für ihn gänzlich ominöse Welt. Für ihn ist jeder gleich, er kennt keine Standesunterschiede. Arm oder reich, Diener oder Herr, er schenkt jedem die gleiche Aufmerksamkeit. Wie ein Neugeborener mit grenzenloser Naivität und Unwissenheit gesegnet und doch mit klarem, analysierendem Blick wird daraus eine eigenartige Mischung, die die Menschen um ihn herum zugleich misstrauisch macht und dennoch über die Maßen fasziniert. Manche wollen sich schnell vor diesem Vergleichsmaßstab schützen, indem sie ihn der Lächerlichkeit preisgeben, andere erklären ihn zu einem leuchtenden Vorbild, aber alle meiden seine dauerhafte Gemeinschaft.
Behauptet der Fürst zu Beginn noch, er sei in Frauendingen völlig ungeübt und ungeeignet, so entbrennt er doch sogleich in Liebe zu einer Frau, die er zunächst nur auf einem Porträt sieht. Nastassja (Marina Galic), die jahrelang als Vollwaisin von ihrem Ziehvater als Geliebte gehalten wurde, kann sich aufgrund ihrer Schönheit vor männlichen Angeboten nicht retten. Auch der reiche Erbe Rogoschin (Felix Knoop) wirbt um sie. Und jetzt auch auf seine sehr stille zurückhaltende leise Art der Fürst. Nastassja weist sein Nichtangebot zurück, wohl wissend, dass sie ihn zugrunde richten würde. Lieber lässt sie sich mit dem ihr ebenbürtigen Rogoschin ein. Dieser ungehobelte Macho-Bauer mit seinen schlechten Manieren, mit seiner offen zu Schau getragenen Eifersucht, Maßlosigkeit und Lebensgier versteht sie. Sie verstünden sich gegenseitig in ihrer Schlechtigkeit. Der Fürst wäre ihrer Lebenserfahrenheit, die ihr das Böse gelehrt hat, schutzlos ausgeliefert. Dazu bemerkt dieser: Bei Rogoschins Liebe sei der Unterschied zum Hass jedoch kaum auszumachen. Womit er Recht behalten soll.
Doch diese Drei sind nicht die einzigen Figuren auf diesem Spielfeld der Gesellschaft, es mischen sich auch noch weitere mit ein, die ebenfalls ihren Zug machen wollen. Die Generalin Jepantschina (Christiane von Poelnitz), die ihrer Tochter Aglaia (Maja Schöne) einen guten Mann verschaffen möchte. Diese hat jedoch eigene Wünsche, die sie selbstbewusst durchzusetzen versucht. Der etwas schlichte Ganja (Steffen Siegmund), der ebenfalls eine gute Partie sucht, wirbt um beide Frauen gleichzeitig. Rogoschin, der eifersüchtig seinen schönen Besitz Natassja bewachen will, ohne sie jedoch wirklich sicher zu haben. Denn sie gefällt sich als Spielball zwischen allen Aspiranten auf den Platz neben ihr. Sie weiß, wenn sie sich wirklich entschieden hätte, ist das Spiel zu Ende und vielleicht auch ihr Leben.
Die Todessehnsucht und Vergänglichkeit alles Seins, steht gleich von Beginn an mit auf der Bühne. In Gestalt eines Gemäldes von Holbein. Vor „Der Leichnam Christi im Grabe“ legt sich der lebensgierige Rogoschin oft auf den Boden und versinkt in Andacht. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er sich zu dem "Idioten", wie der Fürst oft genannt wird, hingezogen fühlt. Allen diesen Menschen fehlt in ihrer aufgeregten Richtungslosigkeit, die nur vordergründige Ziele kennt, die Marke, nach der sie sich ausrichten können. An dem Fürsten erkennen sie ein Gegenbeispiel, eine Richtschnur, doch er ist zu gut, zu naiv, zu unschuldig, zu vollkommen, als das er für sie passen könnte. Und der Fürst? Er sieht dagegen die anderen als Richtschnur für sich. Er fühlt sich naiv gegenüber ihrer Lebenserfahrenheit und versucht sich einzugliedern. Jens Harzer ist ein fulminanter unsicher Suchender, ein immer Fragender, ein sich windender Liebender und ein um Anerkennung und Verbindung Bittender. Er will sich anpassen, um dazugehören. Am Ende scheitern alle. Dem Fürsten wird die Verbindung versagt, denn zu dieser sind auch die anderen nicht in der Lage. Alle sind sie am Ende alleine oder tot wie Nastassja, die als Leiche wie ein 3D-Doppel vor dem Bild Christi im Grabe aufgebahrt liegt.
Während zu Beginn die Bühne wie ein Spielfeld ihre schwarz- weißen Quadratmuster noch klar erkennen ließ, wird sie im Laufe der viereinhalbstündigen Aufführung mit immer mehr Kreidestaub bestäubt. Wie Mehltau legt sich dieses weiße Pulver über die Szenerie und die Menschen. Alle sind sie gezeichnet, niemand bleibt sauber. Wie eine weiße Sünde, der die Menschen nicht entkommen können, klebt es an ihnen. Klare Spielfelder sind nicht mehr auszumachen. Alles ist verschwommen. Definierte Ziellinien: Fehlanzeige. Richtungslos irren die Spielfiguren hin und her zwischen ihren vermeintlichen Zielen.
Johan Simons hat diesen Roman von Dostojewski werktreu auf die Bühne des Thalias gebracht. Er gibt dem wunderbaren Ensemble des Thalias viel Raum für die psychologische Feinanalyse ihrer Persönlichkeiten. Fast könnte man meinen, dass er dem Ausspruch der Generalin gefolgt ist: „Wir alle sind Originale! Man sollte uns alle hinter Glas setzen für zehn Kopeken Eintritt!“ Zwar wird der Eintritt ins Thalia Theater wohl etwas höher gewesen sein, aber dafür stellt Simons sie nicht hinter Glas, sondern lässt sie auch interagieren. Erst darin wird ihre flexible Originalität richtig sichtbar. Doch das erfordert Ausdauer- und Einfühlungsvermögen beim Zuschauen. Simons punktet dabei nicht nur mit den wunderbaren Darsteller:innen, die er im Thalia dafür zur Verfügung hat, sondern auch mit seinem Mut zur Tiefenbohrung, indem er einzelnen von ihnen immer wieder Zeit für Einzeldarstellungen gibt. Ob nun Maja Schöne als emanzipierte starke Frau, die in ihrem Gestaltungswillen schmerzhaft an die Grenzen der Gesellschaft stößt oder Marina Galic als "NFB", die sich in ihrer Rolle als umworbene Schöne vorgaukelt alle Fäden des Spiels in der Hand zu haben, Felix Knoop als Rogoschin, der in seiner rüpelhaftigen Lebensgier seine zarte Liebesbedürftigkeit nur mühsam versteckt und nicht zuletzt Jens Harzer, der als unschuldiger Menschensucher sich selbst ganz und gar zu verlieren scheint. Ein ausufernder Theaterabend als Studie über die Absurditäten der Unzulänglichkeit des Menschseins und zudem ein Fest der Schauspielkunst.
Birgit Schmalmack vom 3.1.23

Abbildung: Der Idiot, Thalia - Foto: Armin Smailovic

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