Einfühlsame Porträts von Menschen mit harter Schale
Karg, ehrlich und ungeschönt ist die Bühnengestaltung (Jörg Kiefel) von "Der Krüppel von Inishmaan" und passt so hervorragend zu den Bewohnern der kleinen irischen Insel. Schwarze Erde auf dem Bühnenboden, grüne über die Bühne führende Stege plus Treppen, eine Holzplattform mit schlichtem Verkaufstresen und ein alter Ledersessel erlauben den Blick bis zur Brandmauer des Ernst-Deutsch-Theaters. Ein Außenseiter wie der "Krüppel-Billy" (Nils Nelleßen), wie ihn alle auf ihre direkte Art nennen, hat es dort nicht leicht. Dabei ist es nicht nur seine angeborene Behinderung sondern auch seine für die Insel ungewöhnliches Interesse an Büchern und fürs "Gedankenmachen", die ihn suspekt werden lassen.
Da ist selbst die gefürchtete, rotzfreche, schnodderige Göre Helen (Nadja Petri) leichter einschätzbar. Auch die Männer der Insel nehmen sich vor dem hübschen Mädchen in Acht. Ihr Schutzpanzer, den sie sich gegen deren Attacken zulegen musste, scheut vor keiner handgreiflichen Racheaktion zurück. Die beiden Pflegetanten, die Billy nach dem Ertrinken seiner Eltern aufnahmen, Eileen (Elisabeth Ebeling) und Kate (Cornelia Lippert) sind schlichte, pragmatische, aber liebevolle Gemüter, die sich mit ihrem Krämerladen durch den Verkauf von wohlgeordneten Erbsen, Eier und Süßigkeiten über Wasser halten. Das männliche Tratschweib Johnnypateenmike (Benno Ifland) hält sich für den wandernden Zeitungsersatz und somit verpflichtet alle Neuigkeiten für eine kleine Entlohnung weiter zu tragen.
Neben all den kleinen Sensationen des Landlebens hat er eines Tages eine tatsächliche zu vermelden. Es soll ein Film von einem amerikanischen Team auf der Insel gedreht werden. Sofort werden die Fantasien der jungen Leute geweckt. Helen sieht sich schon als Hollywood-Filmstar, ihr Bruder Bartley (Willy Workmann) träumt von ganz besonderen Süßigkeiten und einem Teleskop, das es in Amerika geben soll. Und selbst Billy hofft auf eine Chance zur Flucht aus dem kleinen Nest. Er ist derjenige, der sie bekommt. Er darf in das Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und kehrt doch nach ein paar Monaten wieder nach Irland zurückzukehren. Helen macht einen Teil seiner wieder entdeckten Sehnsucht nach der Heimat aus - neben der Ablehnung durch die Filmgesellschaft nach den Probeaufnehmen und einer vermuteten Tbc-Erkrankung. Seine fast zu späte Liebeserklärung erweicht selbst das Herz der spröden und selbstbewussten Widerborstigen. Sie verspricht ein gemeinsames "Spazierschlurfen", wenn sie keiner sehen kann.
Der Hauptdarsteller Nelleßen spielt den Billy so sympathisch anrührend, er kann alle feinen Untertöne des Textes von Martin McDonagh hörbar machen, er wuselt mit seiner unvorteilhaften Wollmütze so unbeholfen herum, er zieht sein Bein so mitleiderregend nach, dass es alleine schon seinetwegen lohnt die Inszenierung um das Leben auf der irischen Insel für zweieinhalb Stunden zu verfolgen. Doch auch die anderen Personen sind von Regisseurin Barbara Neureiter so einfühlsam und mit Sinn für die komischen Momente gezeichnet, dass der weiche Kern unter ihrer harten Schale und der derben Sprache hindurchschimmert und die Gründe für die Zulegung des äußeren Panzers erahnen lässt.
Birgit Schmalmack vom 14.10.03
Abendblatt 4.10.03
mopo 6.10.2003
Unverblümt Premiere von »Der Krüppel von Inishmaan« am Ernst Deutsch Theater
Welt vom 4.10.03
Weniger wäre viel mehr gewesen in Barbara Neureiters Inszenierung von Martin McDonaghs Stück "Der Krüppel von Inishmaan", der am Donnerstag am Ernst-Deutsch-Theater Premiere hatte.