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Besuch im Glücksland

MoraLand Theater Anu




Alle sind hier so glücklich. Woran mag das wohl liegen? Vielleicht daran: In MoraLand lieben es die Bewohner:innen zusammen zu tanzen, zu feiern und zudem ganz fest an ihre Utopie zu glauben. Das hebt ihre Glückskurve auf ein dauerhaft hohes Niveau. Sie glauben fest an die Vernetzung der Bewohner mit der Natur. Unter der Erde schlummert nach ihrer Vorstellung ein allumgreifendes Geflecht aus Moorts-Pflanzentrieben, deren Sprache man lauschen und folgen muss, um in Frieden leben zu können.

Als sie gerade wieder einmal fröhlich zusammen singen und tanzen, stehen an dem Tor zu ihrem Moraland plötzlich ganz viel Besucher:innen. Die Aufregung steigt. Herzlich werden die Neuen willkommen geheißen und gebeten, sich in ihrem Wunderland umzuschauen und vielleicht von ihrer Idee des Zusammenseins begeistern zu lassen.

So dürfen sie den einzelnen Schaubuden einen Besuch abstatten und ganz eintauchen in die Lebens- und Gedankenwelt der Moraner:innen. Ein Erbauer eines wunderschönen Kaleidoskops, eine traurige Fastnachfolgerin der Königin, ein Hüter eines sich magisch verwandelnden Gemäldes, ein Spieler eines kuriosen Schwingungsapparats, eine meditative Steingärtnerin, ein Einsiedler, eine Waldläuferin und die Spiegelfrau erzählen von der wundersamen Kultur der Moraner. Doch sie haben ein Problem: Sie brauchen eine neue Königin. Ihr alter Brauch will, dass sie für eine Nacht in der roten Riesenknospe schlafen muss. Nur dann ist der Bund zwischen ihnen und ihrer Moorts-Pflanze wieder neu besiegelt. Während die Zuschauer:innen sich nach und nach in den bunten Zelten von den wundersamen Geschichten der Moraner:innen einfangen lassen, wird unter ihnen nach einer neuen Königin Ausschau gehalten. Immer wieder werden neue auserkorene Kandidatinnen aufgefordert, zu horchen, ob sie unter der riesigen roten Knospe in der Mitte des Platzes das Moorts sprechen hören können, eine der Grundvorsaussetzungen, um zur Nachfolgerin zu werden. Spät am Abend beginnt dann die geheimnisvolle Zeremonie. Eine der Kandidatinnen hat alle Bedingungen erfüllt und darf sich in der Knospe schlafen legen. Nun heißt Ruhe und Geduld zu bewahren, denn schließlich soll sie einschlafen. Also spielt der Klangkünstler mit seiner ungewöhnlichen Geige Schlaflieder und erzählt der Einsiedler eine Einschlafgeschichte, von denen man sich, wenn man mag, forttragen lassen kann. Dazu gibt es gemütliche, wärmende Decken, Tee und Nüsse werden gereicht und ein kleines Kreisritual begangen, bei dem sich alle an den Händen fassen und die Gemeinschaft spüren sollen. Je ruhiger die Stimmung wird, desto mehr steigt die Spannung. Wird die Zeremonie Erfolg haben? Pünktlich zur Geisterstunde, wenn das Tempelhofer Feld schon längst völlig leer, dunkel und ruhig geworden ist, ist das Ergebnis klar, das hier natürlich nicht verraten werden soll.

MoraLand schickt seine Besucher in einen ganz eigenen Kosmos. Auf poetisch sinnliche Weise wird von einer Welt erzählt, deren Bewohner eine ganz klare Wertvorstellung haben, die sie auch an ihre Besucher:innen weitergeben wollen. Die Moraner:innen wissen schon, was wir noch lernen sollen: Alle müssen wieder im Einklang mit der Natur leben.

Während die früheren Inszenierungen des Anu-Theaters ihren Besucher:innen eher einen riesigen Raum an Deutungsmöglichkeiten eröffnete, hat sich die innovative Theater-Compagnie dieses Jahr entscheiden, ihre Aussagen zu schärfen und eine klare Botschaft zu senden. Denn die Zeichen der Zeit sind ebenfalls sehr deutlich geworden. In einem Sommer des Krieges und der Hitzewellen in Europa braucht es eine klare gemeinsame Zielrichtung.

MoraLand bedient sich dabei sehr unterschiedlicher Theatermittel. Der Abend schwankt zwischen unterhaltsamen Schaubuden-Attraktionen und beschaulicher Performance. So wird von den MoraLand-Besuchenden, die bis zum Ende bleiben wollen, eine hohe Bereitschaft verlangt, sich in die unterschiedlichen Stimmungen des langen Theaterabends einzulassen. Man sollte also unbedingt den Ratschlag des Teams zu Beginn beherzigen und während des Besuches der Schaubudenstationen eine längere ausgiebige Picknickpause einlegen, um sich in Ruhe auf den Teil des Schlafrituals einlassen zu können. Doch niemand der überfreundlichen Moraner:innen wird böse sein, wenn es Menschen vorziehen nach dem mitreißenden Märchenteil das MoraLand wieder zu verlassen. Jede:r wird so den Theaterabend erleben können, den er oder sie sich wünscht.

Birgit Schmalmack vom 8.8.22