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Ohne die schützende vierte Wand

Checkpoints im tak, Berlin







Der Regisseur Mudar Ramadan warnt vor: Der heutige Abend sei ein Experiment, bei dem die Zuschauer:innen die Testpersonen seien. Es werde durch fünf Stationen gehen, in denen die Themen Gewalt, Willkür, Macht und Folter erfahrbar werden sollen. Fast alle der Mitwirkenden dieser Theaterversuchsanordnung kommen aus Syrien und haben die Situationen am eigenen Leib erlebt. Jederzeit könne man aussteigen, wenn man das Codewort „Feuer“ rufe.

Die Vorwarnung zeigt sofort Wirkung: Aufregung, Beunruhigung und Angstgefühle machen sich unter den Gekommenen breit. So vorbereitet geht es zum ersten Checkpoint. Zwei Soldaten und eine Soldatin bilden im ersten Bühnenraum des tak eine der Realität nachempfundenen Postensperre nach. In einer langen Reihe müssen sich die Gekommenen aufstellen. Nach und nach werden herausgepickt und einer genauen Inspektion unterzogen. Als einer Überprüften auf energische Anweisungen sich bis auf die Unterhose ausziehen und als warnendes Beispiel mit Kabelbindern fixiert an der Wand stehen bleiben muss, steigt der Angstpegel.

Als Mudar Ramadan für die zweite Station die Möglichkeit anbietet sich in Zuschauende und Mitwirkende aufzuteilen, füllt sich schnell die erstere Seite. Zumal es dieses Mal um die Erfahrung von Isolation und Folter gehen wird. Doch ein paar Mutige finden sich. Als die Zuschauenden schließlich auch in den kleinen beengten stickigen Raum gebracht werden, erlösen sie damit die „Gefangenen“ und einer der syrischen Mitwirkenden berichtet, wie es sich anfühlte, als er, sein Bruder und sein Vater verhaftet und nebeneinander in ihren Zellen gefoltert wurden. Jedes seiner Worte wirkt absolut authentisch.

Geschickt hat das Regieteam aus Ramadan, Hiba Obaid und Gina Farrow mit diesem Intro die Erwartungshaltung auf ein beunruhigendes Level gehoben. Was erwartet die Versuchskaninchen wohl als nächstes? Nur soviel sei verraten: Die nächsten Stationen bringen die Themenbereiche Gewalt und Machtgefälle immer dichter an für die meisten Besucher:innen sehr vertraute Lebenssituationen heran. Und in der letzten Station, für die es weit im Gebäude des tak nach oben geht, wird die Ankündigung in der zuvor unterschriebenen Bescheinigung wahr: Der heutige Abend beschreitet einen Weg zum Theater. Und bildet damit auch den absurden Alltag von Syrer:innen ab, die jeden Tag der militärischen Gewalt ohnmächtig ausgesetzt sind und dennoch im Theater die europäischen Klassiker inszenieren. Die durchaus von genau den Erfahrungen erzählen können, die sie zuvor durchleben müssen, wie die Abschlussstation beweist. Denn Gewalt und Unterdrückung sind universelle Themen, die stets auf einem Machtgefälle beruhen und zu Willkür, Missbrauch und Ohnmacht führen. Dieses Theaterexperiment spielt geschickt mit den Gefühlen der Besuchenden. Es lohnt sich, es bis zum Ende zu durchleben. Gerade die verschlungene Reise, auf die das Regieteam sein Publikum über drei Stunden lang schickt, hat es in sich, auch gerade weil es die Erwartungen immer wieder geschickt unterläuft.

Birgit Schmalmack vom 26.7.22