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Mama guck mal, was ich kann

© Monika Rittershaus, 2021


Ein Wesen, halb Kind, halb Jugendlicher, halb Mann steht in Bomberjacke auf der Bühne, in den Armen einen großen Ballon. Es drückt und drückt, bis es knallt und es zu greinen anfängt. Richard ist geboren. Doch „Schon im Mutterleib wurde mir die Liebe vorenthalten“, sagt er fast sachlich. „Solls mir mein Himmel sein, vom Thron zu träumen.“ In diesen beiden Sätzen ist schon ein Großteil des Abends "Richard the Kid & the King" umrissen. Doch noch viel wichtiger als dieser Inszenierungsansatz ist die Tatsache, dass Lina Beckmann dieses verachtenswürdige Geschöpf spielt. Denn sie schafft das Wunder, dass man im Laufe dieses fast vierstündigen Abend diesen Meuchelmörder zu verstehen beginnt. Und leider auch die Gesellschaft, die ihn möglich gemacht hat.
Richard kam als missgestaltetes Kind auf die Welt. Selbst seine Mutter verspürte seitdem einen Widerwillen gegen ihren eigenen Sohn. Wenn Richard stolz mit dem Dreirad über die Bühne kurvt und ruft „Guck mal Mama, was ich kann", findet er keinerlei Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ihm wird die Unterstützung und Zuneigung verwehrt, die jedes Kind braucht. Schon früh erkennen seine Brüder, dass sie die gesteigerte Aggressivität ihres kleinen Richards prima ausnutzen können. Sie lassen ihn all den Unfug anstellen, den sie aushecken, ihn aber ausführen lassen. Wenn die kleine Brudergang in ihrer Tarnfleck-Streatware durch die Gegend zieht, ist keiner sicher. Zielsicher flüstern sie Richard ein: "Wenn du ein Star bist, lassen sie dich alles machen." Seitdem ist das Ziel für Richard klar, er will auf den Thron. Jeder oder jede, der oder die ihm dabei im Weg steht, wird einfach beiseite geräumt.
Die Bühne ist eine leere schwarze Scheibe, über ihr die Sterne als kleinere und größere Lampen, die mitunter ihre Stellung verändern, wenn Richard in seinem Universum die Spielregeln verschiebt. Lina Beckmann schafft das Kunststück, dass sie jede ihrer Taten wie eine Zuschauerin ihrer selbst begeht. Verwundert über die Macht ihrer Rache, ihres Zorn, ihrer Wut schreitet sie von einer Tat zur nächsten. Kopf schüttelnd scheint sie sich selbst dabei zuzuschauen, wie aus dem verlachten Krüppel tatsächlich der gefürchtete Herrscher wird. Doch dann beginnt das Fatale: Je dichter er dem ersehnten Thron kommt, desto zahlreicher werden die Widersacher, die tatsächlichen und die vermuteten. So widmet sich die Regisseurin Karin Henkel im zweiten Teil „Richard the King“ der Hofgesellschaft, die diesen Aufstieg Richards erst möglich gemacht hat. Sie werden zu bloßen Spielfiguren im Machtpoker Richards. Er wird immer geschickter in den Fertigkeiten der Manipulation. Verblüfft über seine strategischen Fähigkeiten wird er immer großenwahnsinniger. Keiner kann ihn jetzt mehr stoppen, denkt er. Und tatsächlich, die Rettung der Veränderung kann nur von außen kommen. Erst ein Herzog aus Frankreich muss gegen Richard zu Felde ziehen und ihn selbst vernichten, damit der Weg zum Frieden möglich wird.
Karin Henkel ist ein großer Abend gelungen, mit dem einer Textfassung des Originals, die schon aus dem "Schlachten"-Epos (Tom Lanoye und Luk Perceval) bekannt sein kann. Und dazu trägt nicht nur die überwältigende Hauptdarstellerin bei, sondern auch die Besetzung aller tragenden Rollen mit nur drei weiteren Darstellerinnen (Kate Strong, Bettina Stucky und vor allem Kristof Van Boven). Henkel ist eine Interpretation des Stoffes gelungen, die so stringent umgesetzt ist, dass man denken könnte, sie bräuchte nicht unbedingt eine Länge von vier Stunden. Dennoch möchte man keine einzige Minute missen, so lange einen eine Lina Beckmann währenddessen mit ihrer grandiosen Wandlungsfähigkeit beglückt.
Birgit Schmalmack vom 13.1.22