Textversion
Sie sind hier: Startseite

Wer ist das Volk?

Citizenpark Lichthof


Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus? Doch wer definiert, wer zu diesem Volk gehört? Wer diese Staatsgewalt mit ausüben und über die Gestaltung Deutschlands mitbestimmen darf, zum Beispiel durch seine Beteiligung an Wahlen? Das Grundgesetz verrät es: Nur Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit ab Vollendung des 18. Lebensjahres sind auf Bundesebene wahlberechtigt. Damit sind hierzulande ca. 500.000 Menschen vom diesem Recht auf Mitbestimmung ausgeschlossen. Auch wenn sie hier schon jahrzehntelange leben, brav ihre Steuern bezahlen, ihre Ausbildung oder ihr Studium abgeschlossen haben und sogar jeden Sonntag Tatort gucken und am Wochenende Bier trinken gehen. Es zählt einzig und allein ihr Pass. Ist das noch zeitgemäß? Das fragen sich nicht nur die Akitvist:innen im "Citizenpark", in dem sie ausprobieren wollen, was wahre Demokratie ausmacht. Hier wollen sie ihre Stimme erheben, hier wollen Gehör finden, auch wenn sie ansonsten nicht gesehen und mitgezählt werden. Doch sind die Menschen, die mehr als ein Heimatland haben, etwa wertlos, so dass ihre Meinung nicht zählt? Auf jeden Fall sind sie wütend und nicht mehr willens, ihre Stimmlosigkeit hinzunehmen. Dafür erheben sie so laut ihre Stimmen, so dass sie oftmals im Bühnenraum des Lichthoftheaters von den Wänden widerhallen. Ihre Energie vibriert durch den grün auslegten Raum, in dem Zuschauer:innen und Performer:innen sich frei im Raum verteilen dürfen. In einer geschwungenen Leuchtschrift prangt das Banner ihres Park-Namens über allem. Die fünf jungen Frauen und der junge Mann sind alle Bürger:innen Hamburgs, zwischen 16 und 24 Jahren. Alle eint, dass sie am 26.9. nicht mitwählen dürfen. Doch einer jungen Generation, für deren Leben Sprach-, Kultur- und Ländergrenzen keine große Rolle mehr spielen, die ihre Identität in der Transformation definieren und nicht auf eine Zugehörigkeit festlegen lassen wollen, erscheint das Konzept einer einzigen Heimat nicht mehr als passend. Sie fordern lautstark eine Veränderung. Das erscheint nur folgerichtig, wenn überall eine Globalisierung gefordert wird, die aber bitte schön keinerlei Auswirkungen auf die heimische Politik haben soll. Gut dass auch die leiseren Töne Platz an diesem Abend fanden. Etwa wenn die kleine Marionette durch den Raum läuft, nur von dem Licht einer Taschenlampe ins Rampenlicht gerückt und sich ihre Gedanken zur den Schwierigkeiten beim Wählen macht. Wenn sich hin und wieder ein anklagender Ton gegen ein vermeintliches "Ihr" einschleicht, ist das angesichts der aufgestauten Wut verständlich, will aber zu der Aufbruchsstimmung des selbstreflexiven Ensembles nicht passen. Hier geht es schließlich nicht um Schuldzuweisungen sondern um den legitimen Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen. Stark ist der Abend, wenn er ganz nahe an den Biographien der Schauspieler:innen bleibt. Dann ist er überzeugend, stimmig und glaubwürdig, weil er pralle Authentizität versprüht. Lösungen wollte der Abend nicht präsentieren sondern zum Nachdenken anregen. Das ist ihm gelungen, auch bei der Schulklasse, die an diesem Abend anwesend war. War die Unruhe am Anfang unter ihnen noch groß, so wurden sie im Laufe der Vorstellung immer ruhiger und lauschten sehr aufmerksam den Erzählungen der jungen Leute auf der Bühne.
Denn eines ist ganz klar: die heutige Gesellschaftsstruktur, die Menschen auffordert, global zu denken, zu agieren, zu leben und zu arbeiten, will nicht zu den überkommenen Pass- und Mitbestimmungsregularien passen. Sie gehören dringend auf den Prüfstand. Das macht diese überzeugende Arbeit von Regisseur Serkan Salihoglu mehr als deutlich.
Birgit Schmalmack vom 4.10.21