Hassan Leklichee, Max und Moritz
Performative Bilderflut
Hassans fiktive Biographie lässt kein Klischee einer Sozialisation in einem arabischen Land aus. Unterdrückung, Gewalt, Vergewaltigung, Missbrauch, Flucht, Asylsuche, Radikalisierung, Verhaftung, Guantanamo, Folter und Tod. Alles das erlebt Hassan in dem nur 26-seitigen Manuskript Hassan Leklichee von Jaouad Essounani. Diese lückenhafte Textvorlage, die sich eines logischen Handlungsablaufes weitestgehend verweigert, nutzt die Regisseurin Lydia Ziemke als Material zum Spielen und erlaubt so einen distanzierten Blick von außen. Sie findet mit ihrem spielfreudigen Ensemble einen angemessenen Ausdruck für diesen Text, indem sie seiner Ereignisfülle eine Bilderfülle gegenüberstellt. Sie konfrontieren dieses Textfragment mit einer Flut aus Bildern, die zu viele Farben greift. Roter Sand steht für Blut, Schwämme mit lila Farbe für Schläge, grüner Sand für die Spuren der Revolution des grünen Marsches. Auf der Wäscheleine werden Zeugen der Ereignisse in Briefen, Geldscheinen oder Kleidern aufgehängt.
Zwischen den Menschen gibt es keine Kommunikation. Alles geschieht mit ihnen. Die Umstürze ihres Landes werden ihnen auferlegt, sie müssen sie erdulden. Passend dazu kommen die Verlautbarungen aus dem Radio oder als Berichterstattung vom Mikro. Die Menschen selber haben keine Stimme. Nur einmal versucht Hassan den Ausbruch: Er chattet mit Corin aus der Schweiz. Hier gibt es einen kurzen Moment des versuchten Austausches, wenn auch nur über das Netz. Wunderschön mit sparsamen Mitteln inszeniert: Mit Hilfe eines einfachen Overheadprojektors wird das Bild einer roten hin- und hergeschobenen Sonne auf die Bühnenrückwand projiziert, während Hassan und Corin sich auf der Bühne ihre Dialogfetzen hin- und herwerfen. Dann gehen Sterne über ihrer romantischen Projektion auf. Denn Hassan wird nie zu Corin in die Schweiz kommen.
Ziemke wagt einen sehr emanzipierten Blick auf den Text des marokkanischen Autors. So findet sie einen Weg, der dem europäischen Theaterzuschauer so viel Raum eröffnet, dass ihm ein eigenständiger, kritischer Zugang zu den überzeichneten Zuschreibungen des Textes ermöglicht wird.
Raffiniertes Bubenstück!
Da gibt es diese bösen Buben, die treiben ihren Schabernack mit der braven Bürgerschaft. Die zwei sind aber keine Streetgang, die heute durch die Großstadtstraßen ziehen, sonders heißen Max und Moritz und aus der Feder von Wilhelm Busch entsprungen.
Wenn sie von Nele Weber am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne gebracht werden, glaubt man sich zunächst zu einer szenischen Lesung mit Pianobegleitung geladen. Doch weit gefehlt: Taner Sahintürk ist zwar auch ganz brav in schwarz und weiß gekleidet, doch alles so figurbetont, dass der Reißverschluss an seiner Hose immer wieder hochgezogen werden muss. Außerdem prangt unübersehbar auf seinem Arm das Tatoo „Mother Fucker“. Kein unbeabsichtigter Klischeeerwartungsaufbau, wie sich herausstellt. Denn Taner hat einen riesigen Spaß daran mit seinem Publikum Streiche zu spielen, wie das Pärchen, von denen er ihnen eigentlich erzählen will. Ob er ihnen die Brille klaut, ihnen sich deren Handy ausborgt, sie animiert gemeinsam die Nationalhymne zu singen oder sie dazu bekommt für Geld Hundefutter zu essen; immer fallen die braven Hamburger Bürger auf den Schauspieler herein. Dann hat Nele Weber ihr Publikum da, wo sie sie hinhaben wollte: Sie werden in die Situation des Schneiders Böck, des Lehrers und des Bäckers hineingezogen und können am eigenen Leibe erfahren, wie bösartig doch bis vor kurzem noch allseitig anerkanntes deutsches Kinder-Kulturgut ist. Raffiniertes Bubenstück!
Birgit Schmalmack vom 30.6.13
Orlando
Wer bin ich, und wie viele?
Auf der Suche nach ihren vielen Ichs macht sich Orlando auf die Reise. Kurvenreich und eisig ist sie. Das sieht man auf dem Video im Hintergrund, das eine nächtliche verschneite Landstraße entlangfährt. Orlando lebt nicht minder gefährlich, aber als Graf auf hohem Ross. Davon zeugen sowohl das lebensgroße weiße Pferd wie auch die Sänfte auf der Bühne. Obwohl Orlando zunächst noch von sich behauptet eindeutig vom männlichen Geschlecht zu sein, ist Franziska Melzer in ihrer weißen Korsage und hochblonden Perücke ohne Zweifel eine Frau. In heutiger Zeit kein Hinderungsgrund schnelle Affären, kurzfristige Eroberungen und kaltblütige Auseinandersetzungen zu haben, aber sehr wohl im Elisabethanischen Zeitalter, in dem Virginia Woolfs Roman beginnt. Erst wenn sie zum Schluss zur Frau wird, ein weißes Abendkleid anzieht, bedient sie die Klischeebilder an Weiblichkeit im Stile Marilyn Monroes.
Die Bühnenfassung am Potsdamer Hans-Otto-Theater kann als ästhetische Inszenierung der puren Oberflächlichkeit der Schönen und Reichen gelesen werden. Nur wenn Melzer zum Mikro greift und in nachdenklichen Songs über ihre Suche philosophiert, wagt sie die Ehrlichkeit, die sie sich ansonsten versagt.
Birgit Schmalmack vom 27.6.13
Elektra, Schwarztaxi Inside
Gefangen in der Familienhölle
Elektra ist gefangen in dem Gedankenkreislauf ihrer Rache. Ihre Mutter dreht ihre Runden zwischen den toten Trophäen ihrer Vergangenheit, will ihre blutigen Details verdrängen, aber ihre allnächtlichen Alpträume lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Elektras Schwester hängt zwischen den beiden weiblichen Polen ihrer Familie; sie will die alte Harmonie wieder herstellen, mit der Vergangenheit endlich abschließen und in die Zukunft schauen. Von dieser einstmaligen Familienharmonie erzählt das Video auf dem kleinen Bildschirm, das in Dauerschleife von besseren Zeiten zeugt. Doch diese sind lange vorbei. Von der Tapete hängen nur noch Fetzen an der Wand, statt Sofa stehen Obstkisten auf dem Boden. Denn Schlimmes ist seitdem geschehen. Die Mutter teilt nun mit dem Mörder des Vaters das Bett. Elektra kann und will nicht vergessen. Regisseurin Kerstin Krug vom Bochumer Theater Rottstr 5 wollte diese Familienhölle zeigen. Sie beginnt schon auf hohem Erregungsniveau. Die Unfähigkeit der drei Frauen aus dem eigenen Gedankenschleifen auszubrechen lässt wenig Platz für Entwicklungen. So bleibt das Spannungspotential dieses Textes nicht ganz ausgeschöpft.
Zeitspiralen
Es beginnt surreal im Foyer: Zwei Frauen in geblümten Overalls sichern sorgfältig die Beweisstücke eines Verbrechen. Zwei Etagen darüber geht die Suche nach der Wahrheit dann weiter. An einer langen Tafel sitzen sich die beiden Frauen, nun in strengen Hosenanzügen, gegenüber. In Zeitlupentempo schaufeln sie Kartoffelbrei in sich hinein, bevor die eine über die eisigen Moränenlandschaften Island zu referieren beginnt, die in sie an die verschlungenen Pfade der menschlichen Gedächtnisses und an die Breilandschaften auf ihrem Teller erinnern würden.
Um Erinnern und Vergessen wird es im Folgenden zwischen den beiden Frauen gehen. Mal schlüpft die eine in die Rolle der Verhörenden, mal die andere. Imaginäre Fotos werden präsentiert. "Sind Sie die Frau auf dem Foto neben dem Mann im Wald?" Mit expressiver Körpersprache, die Anleihen an Monty Python, Sherlock Holmes, Louis de Funes oder James Bond benutzt, kommen sich die Frauen allmählich auf die Fährte. Geschickt wird von Regisseur Alexander Eisenach auch der Zuschauer mit in die scheinbare Auflösung eines Kriminalfalles hingezogen. Doch nur um ihn plötzlich mit ganz anderen Fragestellungen zu konfrontieren: Wie viel deiner Vergangenheit ist dir wirklich bewusst? Existieren auch in deinem Hirn schwarze Löcher, in denen ein Teil der Erinnerung verschwindet? Was ist Zeit? Ist sie umkehrbar? Könntest du dich anders entscheiden, wenn dir deine Zukunft schon bekannt wäre?
Schwarztaxi Inside vom Centraltheater Leipzig ist ein wahnsinnig toller, intelligenter Abend über das Sein und das Nichtsein, der so virtuos mit allen Theatermitteln spielt, dass er die Zuschauer zu hochphilosophischen Nachdenken verführt, noch bevor sie es recht mitbekommen haben. Die beiden herausragenden Schauspielerinnen Sarah Franke und Janine Kreß ergeben mit dem DJ auf der Bühne Sven Michelson ein Team, das keinen Wunsch mehr offen lässt.
Birgit Schmalmack vom 26.6.13
Die Ängstlichen, Nora
Unentschlossen
Zwei Brüder finden ihren toten Vater in seiner Wohnung. Sie sehen sich konfrontiert mit ihrer Vergangenheit, ihren Verletzungen, Hoffnungen, Zuschreibungen und Enttäuschungen. Nis-Momme Stockmann hat in dem Stück Die Ängstlichen und die Brutalen die Gespenster der Vergangenheit in psychoanalytischer Detailarbeit an die Oberfläche gezerrt. Kein Entrinnen ist möglich. Zum Schluss ist der Bühnenkasten von allen Seiten vernagelt. In ihm sind die drei Toten, Halbtoten und Lebenden zum wohlmöglich ewigen Zusammensein verdammt. Regisseur Boris Motzki von den Kammerspielen Landshut nimmt dieses Szenario zum Anlass um daraus eine irre Mischung aus Krimigroteske, Slapsticknummer, Enthüllungsdrama und surrealer Komödie zu machen. Ein zu indifferenter Ansatz um überzeugend zu sein. Der klamaukige Beginn schafft nicht die erwünschte Fallhöhe sondern dezimiert die Glaubwürdigkeit der späteren tiefenpsychologischen Analysen.
Wenn Abziehbilder kommunizieren
Acht Jahre haben wir kein ernstes Wort miteinander gesprochen. An diesem Satz aus Ibsens Nora hängt Sarah Kortmann von den Landungsbrücken Frankfurt ihre Inszenierung des Klassikers auf: Bei ihr wird tatsächlich bis zum Ausbruch Noras kein Wort gesprochen. Sie lässt alle Personen wortlos ihre Geschichte erzählen. Dass dies gelingt, ist der großartigen und genauen Textarbeit des Ensembles zu verdanken. Die Hintergründe der Personen werden einzig über lautmalerische Äußerungen, körperliche Zustände und typische Handlungen ausgedrückt. Nora ist das Ballett tanzende, dauergrinsende Püppchen, ihr Mann Torvald der heile Welt spielende, autoritäre Machoehemann, Krogstad der servile, gerissene Gläubiger und abservierte, verletzte Liebhaber und Frau Linde die vom Leben gebeutelte, aber pragmatische, emanzipierte Geschäftsfrau. Erst ganz zum Schluss versuchen sie die Kommunikation mit Worten. Fast meint man, dass sie auch darauf hätten verzichten können: Außer dem Austausch von Floskeln haben sie sich nicht viel zu sagen, wahres Verstehen hört sich anders an. Eine mutige Arbeit, die sich auf ganz neues Terrain wagte.
Birgit Schmalmack vom 25.6.13
Hadda, Das sind nicht wir
Aufstand einer Generation
Das sind nicht wir, das ist nur Glas
Auf einer spiegelnden rechteckigen Wasserfläche stehen die drei Männer unter einem Sternenhimmel aus Lichterketten. Sie haben es satt: Klein sollten sie sich machen, so klein wie Mäuse oder wie Brötchen, die man in kleine Löcher stecken konnte. Versprochen wurde ihnen viel. Wenn sie nur brav genug wären, wenn sie nur eifrig genug beteten, wenn sie sich nur genug anstrengen würden, dann würde es ihnen später einmal gut gehen. Dann würde es ihnen sogar besser gehen als ihren Eltern. Doch nun ist es ganz anders gekommen. Die Krise hat ihnen jede Wohlstandshoffnung geraubt. Jede Schaufensterscheibe spiegelt ihnen wieder: Sie gehören nicht zu den Gewinnern. So begehren die Kinder auf. Plötzlich fühlen sie sich wie Bonnie und Clyde. Sie schießen ihr schlecht gekleidetes Spiegelbild kaputt und rauben sich das, was ihnen fehlt. Am Schauspiel Frankfurt hat Robert Teufel das Stück Das sind nicht wir, wir sind aus Glas des kroatischen Autors Ivana Sajko mit drei ausdruckstarken Schauspielern (Christian Erdt, Mario Fuchs, Daniel Rothaug) und klarem, konzentriertem Konzept auf die Bühne gebracht. Dessen soziologische Thesen sind zwar nicht gerade brandneu, dafür hat seine Sprache eine Wucht, der man sich kaum entziehen kann. Die Witze, die Teufel ihm voranstellt, brauchte er nicht, um die Fallhöhe noch zu steigern.
Vergewaltigung einer Gesellschaft
Ganz andere Mittel verwendet die Regisseurin Lydia Zeimke am Heimathafen Neukölln für das Stück des marokkanischen Autors Jaouad Essounani Hadda. Zwischen wehenden schwarzen Gazevorhängen lässt sie eine fremde Welt entstehen. Arabische Klänge zu elektronischen Beats umgeben die Berberfrau Hadda. Sie schreit ihre Anklagen hinaus. In Rückblenden wird ihre Geschichte erzählt. Schon als Mädchen wird sie in ihrem Dorf vergewaltigt. Auch mit ihrer Flucht in die Großstadt Casablanca setzt sich dieser Weg der dauernden Erniedrigung fort; immer wieder im Namen der Religion oder der staatlichen Machtverhältnisse. Ihre Position als Frau ist die eines Opfers. Auch die Zuschreibungen im Namen der Religion muss sie klaglos hinnehmen. Überprüfen kann sie sich nicht, denn sie kann nicht lesen. Zum Schluss wird sie zum letzten Mittel des Aufbegehrens greifen, das sie kennt: Sie wird sich selbst als Bombe in einem Bus zünden.
Eine Geschichte, die durchaus Klischees bedienen könnte, auch wenn sich Regisseurin Zeimke um eine möglichst politisch korrekte und texttreue Inszenierung bemühte. Das Ensemble arbeitet mit einer Flut an Theatermitteln: Tänzerischer Ausdruck der Emotionen, mythische Bilderreigen, Überlagerung von Geräuschen und Anleihen bei religiösen Riten werden zu fast durchgehend eingesetzter atmosphärischer Musik benutzt, um die überaus dramatische Schicksal Haddas emotional möglichst eindrücklich werden zu lassen. Das war manchem zu viel: Nicht alle Zuschauer mochten sich auf diese all zu fremde Bilder- und Erlebniswelt einlassen.
Birgit Schmalmack vom 25.6.13
Illusionen
Liebe, nur eine Illusion?
Zwei zusammen gealterte Paare, die Ehepartner einander über fünfzig Jahre in treuer Liebe verbunden und alle vier miteinander eng befreundet. Doch dann eröffnet einer der Ehemänner seiner Frau kurz vor seinem Tod, dass er eigentlich nur die Frau des anderen geliebt hätte und tritt damit eine Lawine der Verunsicherung los.
Was ist Illusion, was ist die Wahrheit, damit beschäftigt sich der Text von Iwan Wyrypajew. Ist Liebe nur eine Illusion, die die Menschen einzig dazu erfinden, um ihr Leben auf der Erde leichter ertragen zu können? Das Regieteam „Prinzip Gonzo“ gibt sich in ihrer Inszenierung viel Mühe, um die Verwirrung des Zuschauers noch zu steigern. Sorgsam ist auf der Bühne eine Kleinstadtidylle mit sauber gestutztem Rasen, Kugelgrill, Geranien vor dem Fenster und akkurat angeordneten Kakteentöpfen auf der Fensterbank eingerichtet worden. Doch im Laufe des Abends wird kein Stück mehr an seinem Platz bleiben. Immer schichten die vier Protagonisten die Gegenstände ihres kleinbürgerlichen Lebens um. Genau so wie die Lebensgewissheiten, die sie bis zu ihrem Alter als Wahrheiten pflegten, um jetzt festzustellen, dass sie nur aus Lug und Trug bestanden. Doch auch diese veränderten Wahrheiten stellt dieser Text genau so schnell wieder in Frage, wie er sie aufgestellt hat.
Um für ein wenig Orientierung in dem Chaos zu sorgen, streifen sich die Schauspieler immer wieder farbige T-Shirts über den Kopf um darunter mit ihrer aktuellen Farbe für eine vermeintlich wahrhaftigere Paarung zu stehen. Doch irgendwann sind alle Inszenierungsbotschaften entschlüsselt und das Stück ist immer noch nicht zu Ende.
Die Regisseure Robert Hartmann und David Czesienzki haben dem Text so wenig vertraut, dass sie alle seine Aussagen direkt in Handlungen auf der Bühne übersetzen und damit verdoppeln wollten. So entzauberten sie ihn leider völlig und nehmen ihm jeden Reiz.
Birgit Schmalmack vom 18.6.13
Werthers Leiden, Anatol
Leiden mit Absolutheitsanspruch
Werther leidet. Zu Beginn des Stückes noch an sich selbst und einem undefinierten Lebensüberdruss. Doch dann lernt er Lotte kennen und weiß endlich, worunter er leidet: Lotte ist schon vergeben an den braven Albert.
Isaak Dentler interpretiert Werthers Leiden in seiner Version am Schauspiel Frankfurt einmal anders als gewohnt. Mit einem abgeschrabten Gehrock, strähnigen Haaren und Dreitagebart wirkt er schon vor dem Einsetzen seines Liebesleidens ziemlich heruntergekommen. Von jugendlicher Frische und sprühendem Übermut, die ihn sich in ein aussichtloses Liebesabenteuer stürzen lassen, ist bei Dentler nichts zu spüren. Dagegen viel von einer übergroßen Melancholie mit fließenden Übergängen zu depressiven Schüben und Anfällen akuten Erkennens der allgemeinen Sinnlosigkeit. So zeigt Dentler zwar kaum eine Entwicklung Werthers auf der Bühne – die hat schon zuvor stattgefunden – aber einen zunehmenden Bewusstwerdungsprozess. Er macht das mit einem Absolutheitsanspruch, der nicht nur Werther sondern auch Dentler selbst mit dem Anspruch eines wahren Künstlers versieht. Das duldet keine Huster, keine eigenmächtiger Lacher, kein Knistern im Publikum, das die Aufmerksamkeit von Dentler ablenken könnte. Die Ermahnung folgte sofort: Sogleich wurde derjenige mit einem „Werthers Echte“ beschossen.
Steigerung der Kickrate
Auf einem Hochhausdach hoch über der Großstadt Wien philosophiert Anatol (Thomas Meczele) mit seinem Freund Max (Franz Josef Strohmeier) über die Frauen und die Liebe. Der Frauengenießer will hinter ihre Geheimnisse kommen, jedoch alle seine sorgsam bewahren. So schwört er sie auf die große Liebe und wahre Treue ein, während er sie wie am Fleißband in bunter Reihe gegeneinander austauscht. Konsequenter Weise werden sie in der Inszenierung von Marco Storman am Staatstheater Kassel alle von Alina Rank gespielt, nur durch ihren Kopfschmuck voneinander zu unterscheiden. Doch während sie bald wieder abtreten und ihre Wahrheiten für sich behalten dürfen, steht Anatol zum Schluss ganz entblößt nur noch in Unterhose da. Von seiner gefühligen Selbstinszenierung ist nur noch ein aufgemaltes Herz auf der Brust geblieben. Er bleibt leer und alleine zurück. Storman zeigt mit seinen drei hervorragenden Schauspielern die unbedingte Lebensgier, die ihre Kicks in immer neuen Steigerungen der Exzessivität ihrer kurzfristigen Befriedigungen sucht. Schnitzlers Stück wird so äußerst aktuell.
Birgit Schmalmack vom 19.6.13
Schwarzmarkt, Nora
Liebe im Zeitalter der Partneroptimierungsbörsen
Was wie eine Verwechselungskomödie daherkommt, kann man auch als eine Zustandsbeschreibung der Liebe in der heutigen Gesellschaft lesen. Obwohl das Paar auf dem Schwarzmarkt der Gefühle ein vierjähriges Kind miteinander hat, leben sie immer noch getrennt. Der Mann greift zu einem verzweifelten Mittel: Er verspricht einer anderen Frau die Wohnung seiner Freundin, um letztere endlich zum Umzug in sein Apartment zu überreden. Gleichzeitig bestellt er einen Paar-Optimierungsberater in die Wohnung. Die These des Autorenteams um Aurelina Bücher könnte folgendermaßen lauten: Die Realität in Partnerschaftsbörsen und in unseren Großstädten ist mindestens so abstrus wie unsere Story. Doch diese tiefere Botschaft hielten sie gut versteckt hinter einem boulevardesken, Spiel der vier hippen Darsteller, das leider keine reflexiven Momente zuließ.
Deathmetal-Nora
Jonathan Gruner ist ein äußerst konsequent arbeitender Regisseur. Er bürstete die Ibsensche Nora in seiner Inszenierung am bat in Berlin stringent gegen den Strich. Bei ihm ist Nora kein kleines Opferpüppchen, sondern eine strategisch operierende Manipulatorin wie alle anderen auf dem Schachfeld ihrer kleinen Welt. Um sich selbst als hehre Retterin ihres Ehemannes gerieren zu können, greift sie zu illegitimen Mitteln. Ihr Mann Helmer darf sich in der Rolle des erfolgreichen Managers so lange sonnen, bis auch er erkennen muss, dass sein ganzes Lebensgebäude auf Lügen aufgebaut ist. In Gruners Interpretation gibt es keine Sympathiefiguren, alle sind sie gekünstelt agierende Schachfiguren in einem aussichtslosen Gesellschaftsspiel, in dem niemand gewinnen kann. Bis Nora aus ihrem Käfig ausbricht, sich nicht mehr als Helmers Singvögelchen herumkommandieren lässt, sich das Textbuch schnappt und ihrem Ehegemahl seinen Text souffliert, leiden die Zuschauer bei Deathmetalgedröhne unter der Eiseskälte im Hause Helmers bis an die Schmerzgrenze mit.
Birgit Schmalmack vom 24.6.13
Festzeitstory, Tschick
Feiern mit stoischem Ernst
Egal ob Silvester oder Beerdigung, die vier Schweiger feiern beide Feste mit dem gleichen stoischer Ernst. Butterbrote mit Petersilienverzierungen, Wackelpudding, Schnaps in den verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen, Tuba, Klampfe und Koffertrommel gibt es bei beiden Anlässen in ihrem von Hirschgeweihen bewachten Wohnzimmer. Doch im ersten Teil der Festzeitstory erfährt man nun, dass die Urne nicht nur dem Verbrennen der Altlasten des letzten Jahres zu Silvester diente. Denn wenn der Choral „Hund von Blut und Wunden“ angestimmt wird, wird das Bild mit dem Trauerflor enthüllt und man erkennt: Der Verstorbene, zu dessen Ehren die Beerdigung begangen wird, ist ein Pudel.
Die deutschen Ritualexperten wissen, was sie ihm schuldig sind: Auch ein Hund verdient eine angemessene Freierstunde mit Kranz, Gedicht, Erinnerungsvideo, Trauerkarte und Choralgesang. Natürlich kommen auch dieses Mal die Anbahnungsambitionen der drei Männer um die eine Frau nicht zu kurz. Sie schwankt von bestürzter schamhafter Ablehnung über verschämt freudige Aufregung bis zum Eifersucht erzeugendem Ausspielen der Kandidaten mit provozierenden Zoten. Die drei Männer bleiben ihren Rollen treu: Da gibt es wieder den schüchternen Looser, der nur bei heißer Samba zu extrovertierter Höchstform aufläuft, den verklemmten Möchtegernrocker und den schmächtigen Frauenhelden. Alle diese verklemmten Durchschnittsdeutschen können ihren Gefühlen nur in der Musik freien Lauf lassen. Unterhaltung auf höchstem Niveau von der ausgezeichneten Regisseurin Maria Ursprung mit ihrem hervorragenden Thalia-Schauspielerteam Franziska Hartmann, Jörg Pohl, Thomas Niehaus und Julian Greis.
Temporeiches Jugendtheater
Zwei Handstrahler angestellt, eine Plastikbahn mit Fahrbahnmarkierungen ausgerollt und das Roadmovie kann beginnen. Der Achtklässler Maik ist mit seinem Klassenkameraden Tschick in einem geklauten Lada unterwegs. Auf einer Müllkippe gabeln sie Isa auf. Ein schnöder Baggersee wird zum romantischsten Ort. Fast hätte Maik Isa geküsst. Stattdessen liefern sie sich mit Wasserflaschen eine alberne Wasserschlacht. Drei Außenseiter erleben den tollsten Sommer ihres Lebens und erkennen, dass man sich räumlich nicht weit entfernen muss, um neue Welten zu entdecken. Hartmanns erfolgreiches Buch Tschick hat das Junge Theater Göttingen jugendgerecht auf die Bühne gebracht. Spritzig, temporeich und peppig war in jeder Minute für Unterhaltung und Spannung gesorgt. Obwohl sie weniger abstrakt in ihren Bilderwahl war als die von Christopher Rüping im Thalia in der Gaußstraße, lässt auch sie noch viel Raum für die Fantasie der Zuschauer.
Birgit Schmalmack vom 21.6.13
Verfassungsschutz, Lulu
Operationen im Geheimen
Wie soll man eine Organisation erklären, die per definitionem im Geheimen arbeitet? Wie erklärt man den Verfassungsschutz, wenn dieser jede Auskunft über seine Arbeit jenseits von verklausulierten Allgemeinplätzen ablehnt? Man liest Zeitungen und verfolgt die Berichterstattung in den Medien. Denn über diese Institution, die lange im Verborgenen arbeitete, wurde in der letzten Zeit viel geschrieben. So kam die Produktion V wie Verfassungsschutz vom Nö-Theater aus Köln genau zur rechten Zeit. Denn in Zusammenhang mit dem NSU-Prozess wurde viel über das Versagen des Verfassungsschutzes spekuliert. Somit hatte die Truppe um Regisseur Janosch Roloff plötzlich viel Stoff. Akribische Recherche seit den 68-zigern steuerte viele historische Fakten bei. In Spielszenen erlauben sich die drei Schauspieler mit ihrer Fantasie ein paar Geheimnisse zu lüften. Wie wird ein V-Mann angeworben? Wie funktioniert die Beziehung zwischen V-Mann und Anwerber? Wer dirigiert hier eigentlich wen? Finanziert der Verfassungsschutz durch seine Zahlungen an die V-Leute eventuell einen Teil der NPD-Aktivitäten? Als eine Pappkameraden-Kette hängen die 140 V-Leute bald unter der Decke. Gespickt mit vielen Fakten wird hier engagiertes politisches Theater gemacht. Das funktioniert über weite Strecken sehr gut. Fehlen könnten das Kokettieren mit dem eigenen Unvermögen zu Beginn und der allzu moralische Impetus am Ende. Die selbstironische Witze über den eigenen erhobenen Zeigefinger, die man am Anfang noch riss, passten viel besser zu diesem spielfreudigen Ensemble.
Austauschbarkeit
„Mein Fleisch heißt Lulu.“ Doch genannt wird sie von ihren zahlreichen Verehrern mit den Namen, die ihnen besser zu passen scheinen. Lulu lebt von den Zuschreibungen ihrer Verehrer. Sie kann sich nur über ihren Körper definieren. Wer ist sie jenseits ihres Fleisches? Sie lebt nur durch die Blicke und die Bewunderung der anderen. Auf dem Laufsteg der roten Glitzerfolie kann sie keinen Moment der Ruhe ertragen. Denn dann spürt sie nur die Leere in sich selbst. Erst die Blicke der Männer geben ihr als Frau eine Daseinsberechtigung und einen Lebensinhalt. So reihen sich die Männer in lückenloser Abfolge aneinander. Denn Lulu ist hier in der Inszenierung der Hochschule der Künste aus Zürich von Anne-Süster Andresen kein Püppchen. Sie gefällt sich in dem Glauben, dass sie die Männer mit ihren Begierden dirigieren könne und nicht deren Spielzeug sei.
Andresen verzichtet auf eine psychologische Entwicklung ihrer Personen sondern arbeitet mit den typisierten Klischeebildern von Mann und Frau. Das Begehren und das Leiden an der Leidenschaft werden in ihrer ganzen existenziellen Exzessivität auf der Showbühne ausgestellt. Der Blick in die Kamera gehört für alle Personen mit dazu. Der Abend gewinnt seine Spannung durch die klare Setzung und die starke Interpretation der Lulu durch Stefanie Mrachacz.
Birgit Schmalmack vom 23.6.13
Wunderland, Die Agonie
Die Agonie und die Ekstase des Steve Jobs
Theatervirus
„Ich liebe Technik, ich bin ein Apple-leptiker“, bekennt der Technikfreak zu Beginn. „Doch dieser Abend ist wie ein Virus, er wird Sie verändern“, auch das glaubt der Journalist, der sich auf den Weg machte hinter das Erfolgsgeheimnis des Apple-Gründers Steve Jobs zu kommen und dabei viele unliebsame Entdeckungen machte. Er zeigt, dass das idealistische Ideen-Genie auch gleichzeitig ein kapitalistisches Arbeitgeberschwein war. Er besucht die chinesischen Fabriken, in denen die Arbeiter durch die Arbeitsbedingungen in den Selbstmord getrieben werden. Er will endlich aufdecken, wie teuer bezahlt der Konsumwahn der westlichen Welt ist.
Das Stück von Mike Daisey soll aufrütteln. Es tut das einmal nicht mit den Zuständen in Textilfabriken in Bangladesh, sondern anhand der liebsten Design-Vorzeige-Produkte der Hippster-Generation. Ein packender Theatermonolog wird es deswegen, weil Patrick Schnicke ihn nicht zu einem gutmenschelnden Volkshochschulvortrag werden lässt sondern mit Witz und Ironie in alle Rollen gleichzeitig schlüpft, während er sie mit wenigen Strichen an die Leuchtwand skizziert.
Wunderland
Selbstinszenierung
Das soll unser Wunderland sein? Die Vier auf der Bühne auf dem Lilienteppichboden und vor dem goldenen Vorhang sind ratlos. Die meiste Zeit verbringen die professionellen Selbstinszenierer mit Warten oder Rennen. Doch Warten worauf? Und Rennen wohin? Gesine Dankwart hat in ihrem Text ein Mosaik einer Gesellschaft gezeichnet, der vorgegaukelt wird, dass jeder es bis ganz nach oben schaffe könne, der sich nur genug anstrenge. So der Viererbund aus Handelsvertretern, die nur die passenden Zahlen vorweisen müssten, damit sie die nächste Stufe erklimmen könnten. So die Hartz-IV-Empfänger, die als Symbol für diejenigen herhalten müssen, die aussortiert worden sind, weil sie nur den nächsten Fastfoodstand und den nächsten Zigarettenautomaten im Kopf hatten. So die Messehostessen, die für die Belohnung der erfolgreichen Manager zur Verfügung stehen müssen. Dankwart zeigt eine Welt, in der einzig das Geld den Wertemaßstab bestimmt. Hier zählt nur das Ich, das als Überflieger meint die Welt erobern zu können und sich jäh auf den Fußboden hingestürzt wiederfindet.
Das Nationaltheater Mannheim schafft es mit den vier wunderbaren, wandlungsfähigen Schauspielern (Katharina Hauter, Michaela Klamminger, Martin Aselmann, Klaus Rodewald) unter der Regie von Cilli Drexel aus den vielstimmigen Endlos-Monologen ein höchst aktuelles Drama über unsere heutige Geld-, Konsum-, Leistungs- und Ego-Welt zu machen.
Birgit Schmalmack vom 17.6.13
Zur Kritik von
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