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Kaltstart 2011, Kulturhaus 73 |
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Geschichten hoch im Trend
Dieses Jahr währte das Kaltstart- Festival ganze drei Wochen. Die Zündung klappte ohne Startschwierigkeiten. Das Kulturhaus 73 konnte pünktlich zum Start gleich mit drei Bühnen aufwarten und entspannte so die Programmgestaltung. Fast achtzig Aufführungen hatte das Festival zu bieten. Alexander Riemenschneider ist in Hamburg ein bekannter Name. Er kam zum Kaltstart mit seiner stringenten Kaspar-Inszenierung am Theater Bonn: Mit einem Satz die Welt zu eigen machen. Mit Wörtern Gegenstände benutzen können. Mit Regeln Ordnung in das Leben bringen. Das will Kaspar nun lernen. Er ist bisher ohne die Gesellschaft aufgewachsen. Erst im Erwachsenenalter trifft er auf andere Menschen. Die Worte, die er nicht kennt, schmerzen ihn. Seine Lehrer setzen sich Wolfsmasken auf. Denn er soll zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft erzogen werden. Am Ende könnte Kaspars auswendig gelernte Selbstbeschreibung die Vorlage für ein heutiges Bewerbungsschreiben eines idealen Mitarbeiters sein: „Flexibel, genügsam, anpassungsfähig“. Seine Siegerpose wird während seines „I am what I am“ zu einer verzerrt lachenden Grimasse, aus dessen aufgerissenem Grinsen das Blut läuft.
Wie die Welt eines Mannes in sich zusammenstürzt, macht Thiemo Strutzenberger in Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends zu einem Erlebnis. Eigentlich geht es ihm gut. Er hat Geld, Arbeit, eine Wohnung, eine Frau. Sein Sofa beschreibt er als hochqualitativ. Doch plötzlich bricht ein Bein des Sofas ab. Der Mann und mit ihm seine Welt kommen ins Rutschen. Ein riesiger Schlund tut sich auf. Man lacht wider Willen, wenn dieser schüchterne, empfindsame Melancholiker seine Großwetterlage beschreibt: Aus der immer scheinenden hellen Sonne mit einigen Cumuluswölkchen wird zunächst ein Schauerwetter bis nur noch einzelne Lichtblitze die Rabenschwärze seines Lebens erhellen. Der Themenkomplex Liebe gleicht in seiner Wahrnehmung einem Absturz in die Kanalisation bei einem Wolkenbruch, der alles mit in die Tiefe reißt. An Besserung glaubt er nicht: Leise summt er am kleinen Keyboard: „Nothing ‘gonna change my world“. Beeindruckende Umsetzung des Textes von PeterLicht vom Schauspielhaus Wien.
„Büchner ist Rock“, auf diese These bringt Ludo Vici aus München sein Stück Ich, Georg Büchner. Er porträtiert den jung gestorbenen Dichter mit einer dichten Szenencollage, die er mit seiner Band vertont. Landschaftsbeschreibungen werden mit zarten Elektrogitarrenklängen unterlegt, die revolutionären Aufrufe im hessischen Landboten mit wütenden Rockschlägen. Ludo Vici im löcherigen Ledermantel und mit Glatzkopf ist vielschichtiger Interpret des aufbegehrenden Büchner. Er zeigt die verschiedenen Facetten des talentierten James Dean der Literatur. Er ist das Zentrum der Aufführung. Auf die Darstellung der weiteren Rollen hätte bei seiner Stärke verzichtet werden können. Das beweist er in der Szene aus dem „Woyzeck“, als er die Titelfigur und den Doktor gleichzeitig spielt, indem er als Doktor seinen Kopf senkt, auf dessen Glatze ein lieb lächelndes Gesicht gezeichnet ist.
Nebel, Theatergrollen – vier Schauspieler, als türkische Muttis verkleidet, schlurfen auf die Bühne. Das Klischee lässt grüßen. Lachend reißen sich die vier die Tücher vom Kopf und zum Vorschein kommen Jungs einer Schulklasse, die in Invasion! von einem Theaterbesuch ihrer Klasse erzählen, der mit einem Rauswurf endete. Regisseurin Mina Salehpour vom Staatstheater Hannover versteht ihr Handwerk zum Glück viel besser als die Macher des Schulklassenstückes. Mit leichter Hand und sicherem Gespür für die Pointen erzählen ihre vier spielfreudigen Darsteller von dem ruhm- und legendenreichen Abulkasem. Wie sich die traurigen, lustigen, peinlichen und berührenden Geschichten um diesen Abulkasem ranken, ist so unterhaltsam und hintersinnig inszeniert, dass der übervolle Saal im Kulturhaus zum Schluss begeistert applaudierte.
Auch Tanz war dieses Mal vertreten: Halt mir einen Platz frei, bis ich anders wieder da bin vom Berliner Hebbel am Ufer. Zwei nackte, stark behaarte Urmenschen liegen auf dem Boden. Eine frühe Form des Hospitalismus scheint sie zu plagen. Sie rutschen, reiben und schaukeln in emsiger Selbstbezogenheit auf dem Boden. Kein Blickkontakt stört die Selbstbefriedigung. Sie schnaufen, grunzen und heulen. Eine Urschreitherapie hilft weiter. Laute Brunftgeräusche kündigen die Paarungszeit an. Balanceakte auf dem Anderen lösen kunstvolle Verknotungen ab. Angela Schubot und Martin Clausen erkunden in ihrer gemeinsamen Arbeit die gesellschaftlichen Verpflichtungen zur Anpassung und die Funktionen und Aufgaben der Liebe. Eine interessante Studie, die jedoch bis zum Schluss schön rätselhaft blieb, zumal die begleitende Musik der Gruppe „Formelwesen“ aus der Originalversion beim Kaltstartfestival fehlte.
Eine beeindruckende Arbeit ganz anderer Art: Wie im Wartezimmer auf das Leben fühlen sich Tom und Chris. Doch die Nummern, die aufgerufen werden, sind nie die ihren. Sie fristen ihr Dasein in einem Gefängnis auf der Insel. Statt den ganzen Tag Steine am Strand von einer Seite auf die andere zu schleppen, tragen sie die Wartezimmer-Stühle von rechts nach links und zurück. Kündigt die Trillerpfeife endlich das Ende dieses Arbeitstages an, ziehen sie sich in ihre Zellen-Schicksalsgemeinschaft zurück. Chris bemüht sich, Tom für eine Aufführung des Klassikers „Antigone“ im Knast zu interessieren. Tom entführt Chris mit einer „Gutenachtgeschichte“ in einen Club. Dazu springen die Stahltüren des Schranks auf und Scheinwerfer lassen Tom im hellen Gegenlicht erstrahlen, während er eine HipHop-Nummer hinlegt. Dann rappen und breakdancen die beiden, was der Boden ihrer Zelle hergibt. Hervorragende Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden von Fabian Gerhardt mit den zwei tollen Schauspielern Christian Clausz und Thomas Schumacher.
Die dritte Woche war den Studienprojekten der Theaterakademie im „Finale“ vorbehalten. Viele Projekte aus Hamburg konnten leider nur in Ansätzen überzeugen. Da machten die zwei Gastspiele der Berliner Ernst-Busch-Schule mehr her. Eines davon war Helden. Eine Inszenierung, bei der alles stimmte: Text von Ewald Palmetshofer, Inszenierung von Roscha A. Säidow, Musik von Atheer Adel und die energiegeladenen Darsteller. „Uns geht doch wirklich gut.“ Die Mutter (Antonia Bill) sieht es als ihre Aufgabe an eine Bilderbuchfamilie darzustellen. Ihr Ehemann (Andy Klinger) steht ihr dabei stets eilfertig zur Seite. Auf der Bühnenrampe arbeiten sie an ihrer Selbstdarstellung und nutzen sie für Botschaften an die Welt. Ihre Liebe erdrückt die Kinder. Der Tochter (Jasna Bauer) bleibt die Luft zum Atmen weg, der Sohn (Christian Löber) sieht sich zu einem Punkt zusammenschrumpfen. Sie suchen nach einem Weg, ihre passgenaue Einsortierung ins System zu verhindern. Des Nachts werden sie zu Helden, die sich wehren. Sie legen ihre Kleidung ab, und zum Vorschein kommen Catwomen und Spiderman. Endlich können sie aufbegehren und sich gegen den Zugriff ihrer Eltern wehren, die das Glück nur spielen, aber vor Unzufriedenheit je nach Temperament schlafen oder heulen.
Einzig Die heilige Cäcilie aus Hamburg konnte dagegen punkten. Die Macht der Musik ist ein Thema des Kleist'schen Erzählung „Die heilige Cäcilie“. Heute ist Musik allgegenwärtig. So war für die Inszenierung von Lea Connert der Ausgangspunkt klar. Der allumfassende Einfluss der Musik und der Technik auf unser heutiges Leben sollte erkundet werden. Alle Beteiligten waren aufgerufen ihre eigenen Erfahrungen und Ideen beizutragen. So ist aus ihrer gemeinsamen Arbeit eine Szenenrevue geworden. In fantasievollen Plastikkostümen kommen die Vier mit Roboterbewegungen auf die Bühne, auf der vier Mikrophone von der Decke baumeln. Mit immer neuen Nummern spüren sie den Erfahrungen ihrer MTV-, iPod- und Web2.0.-Generation nach. Sie zeichnen eine Entwicklung nach, die immer mehr menschliche Funktionen durch Maschinen ersetzen lässt. Ihre Prognose ist düster: Übrig bleiben Technokörper und ein Rauschen aus einem der zahlreichen Radiogeräte, die für den Anfangspunkt dieser Entwicklungsspirale stehen mögen. Ideen-, energie-, spaßreiche Umsetzung, wenn sie auch die Verbindung zum Ausgangspunkt von Heinrich Kleists Geschichte weitgehend im Diffusen beließ.
Die drei Wochen zeigen: Den jungen Regisseure, die mit ihren Arbeiten bei Kaltstart vertreten waren, scheinen die derzeitigen Diskussionen um das „Regietheater“ relativ egal zu sein. In ihren Inszenierungen stehen die Geschichten, die sie erzählen wollen, klar im Vordergrund. Die Kaltstart Organisatoren um Falk Hocquél, Thimo Plath und Sarah Theilacker haben es wieder einmal verstanden, professionelles Theater nach Hamburg zu locken. Die erste Woche bot qualitativ hochwertiges Theater. In der zweiten Woche wurde das Programm zunehmend experimenteller. In der dritten Woche war das Finale der Theaterakademie in den Zeisehallen dran. Dieses Mal war es in die letzte Woche verlagert worden. Das führte einerseits zu einer müheloseren Programmgestaltung, leider aber auch zu dem Eindruck, es handle sich nur um ein Anhängsel. Der wurde auch dadurch verstärkt, dass sich die Akteure des Finales zwar auf der Schanze zeigten, aber leider nicht umgekehrt.
Birgit Schmalmack vom 26.7.11
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Kulturhaus 73 Helmi: Lear
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