Figure humaine, Elbphilharmonie



Gelungener Auftakt

Endlich: Die Elbphilharmonie wird Ebene für Ebene geöffnet. Nach der Plaza dürfen die Hamburger jetzt auch ins Foyer. Treppauf treppab verteilen sie sich in dem Labyrinth der Treppenaufgänge mit den vielen Durch-, Ein- und Ausblicken. Einige Tänzer huschen schon auf nackten Sohlen übers Parkett mitten zwischen ihnen hindurch. Dann schreitet der Chor eine der beiden Haupttreppen hinauf und postiert sich unter den Zuschauern. Gewaltig tönt die Musik von Poulenc "Figure humaine". Ergreifend klingt sie bald auch von gegenüber zurück.
Arme sind über der großen Balustrade zu sehen. Sie werfen sich über das Geländer und ziehen sich wieder zurück. Andere Tänzer stellen sich auf die stählernen Handläufe, die an jeder Treppe zu finden sind. Langsam erobern sich die Tänzer und die Musiker ihren jeweiligen Teil des Foyers. Sie schieben sich an den halbhohen Brüstungen entlang, sie heben sich empor, um an den Wänden zu laufen, sie stützen sich um auf den Balustraden gehen zu können, sie rollen sich die Emporen entlang. Dann legt sich einer über die Treppenstufen, ein weiterer legt sich dahinter, bis sich eine lange Menschenschlange durchs Treppenhaus zieht.
Wieder ertönt die Musik aus einem anderen Teil des Treppenwirrwarrs. Sie leitet die Publikumsströme. Wo zarte oder laute Töne zu vernehmen sind, folgt der Zuschauer ihnen. Er lässt sich von seinen Ohren leiten und stößt auf Überraschungen. Immer neue Tanzsequenzen bieten sich ihm nach der nächsten Ecke. Nachdem die Musiker mit ihren von oben erklingenden Tönen die Eingangshalle des Foyers leer gesogen haben, ist hier nun Platz für große Bewegungen einer Vierergruppe. Faszinierend wie die Tänzer sich gegenseitig zu immer neuen Formationen in die Luft heben, aufeinander abdrehen und sich auf dem Boden abrollen.
Auf einmal sind jedoch alle verschwunden. Schon zu Ende? Nein, nun geht es in den großen Saal. Auf der Bühne inmitten des Zuschauerweinbergs stellen sich die Musiker in einem Halbkreis auf. Erwartungsfroh greifen sie zu den Instrumenten. Ein hoffentlich letzter Huster, ein weiteres Rascheln, ein neues Schniefen sind zu hören, doch kein musikalischer Ton. Die Musiker verbeugen sich. Die tolle Akustik wurde auch so bewiesen. Dann Spot auf die Tänzer, die sich in den Reihen verteilt haben. Sie imitieren typische Bewegungen von Zuschauern. Waltz hält hier sehr humorvoll den Zuschauern den Spiegel vor. Im Kreisrund der Arena der Elbphilharmonie kommt nämlich auch dieser gut zur Geltung. Dann ergreifen die Tänzerinnen die Bühne. In mehreren Ritualen eröffnen sie auf ihre Art die Bühne. Schunkeln, Hüftkreisen, Armschwünge, Fußstampen. Wie in verschiedenen Stammeszeremonien treiben sie die bösen Geister aus und holen die guten herein.
Wieder geht es nach draußen ins Foyer. Zuerst gibt es eine wilde Polka, die Musiker und Tänzer zusammenbringt und den Spaß und den Witz, die Musik entfalten kann, zeigt. Danach wird es besinnlich auf der letzten Ebene. Zu zarter Musik erkunden die Tänzer in Zweier- oder Dreierpärchen jeden Körperteil des anderen mit großer Sinneslust und ungeteilter Aufmerksamkeit.
Dann strömt alles wieder den unteren Gefilden zu. Wie bei einem Almabtrieb leiten die Tänzer dabei die Zuschauer mit Glockengeläut von überall her wieder in die Eingangshalle, wo ein letztes Lied erschallt.
Waltz gelingt es mit ihren Gästen selbst den völlig unübersichtlichen Raum des Elphi-Foyers zu bespielen. Sanft leitet sie das Publikum durch die Gänge. Jeder wird eine andere Vorstellung gesehen haben. Und doch hat keiner etwas verpasst, weil alle genossenen Momente des Erlebens der Musik, des Raumes und des Tanzes ihren eigenen Reiz entfalteten. Ein wunderschöner Auftakt für die Elbphilharmonie.
Birgit Schmalmack vom 3.1.17




Sasha Waltz & Guests Foto: Michael Zapf

Zur Kritik von

Spiegel 
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Tagesspiegel 
Zeit-online (dpa) 



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Just call me god, Elbphilharmonie