Zwei Sprachenthusiasten in perfekter Kombination
„Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor dir. Ich wusste dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte.“ Diese Worte hört man in kompletter Dunkelheit in einem Kellergewölbe, nachdem man eine lange Treppe heruntergestiegen ist. Das perfekte Ambiente, um sich mit der Aufarbeitung einer düsteren Vater-Sohn-Beziehung zu beschäftigen.
Als das Licht wieder angeht, kommt ein schüchtern um sich blickendes Männlein leicht gebückt hinter dem Vorhang hervor und hockt sich auf den Boden vor einen großen Leder-Koffer, aus dem Bücher hervorquellen. Der Autor Franz Kafka ist gezeichnet von seiner Kindheit, in der er sehr stark unter seinem harten, strengen Vater gelitten hat. Nun will er in einem Brief an diese Vaterfigur seine Beziehung zu ihm unter die Lupe nehmen. Diese charakterstarke Persönlichkeit sollte Zeit seines Lebens der Maßstab seines Tuns bleiben, obwohl er genau wusste, dass dessen Regeln auf ihn nie gepasst haben. Er muss sich eingestehen, dass sie für ihn stets die Richtschnur geblieben sind, obwohl er sie für sich nie akzeptieren konnte. Denn dieser große, starke Mann blieb für ihn immer ein Vorbild, an das er nie heranreichen konnte, schon rein körperlich nicht. Er blieb immer der schmächtige und schwächlich Junge, der nie die Anforderungen des selbstgewissen, sich nie in Frage stellenden Patriarchen erfüllen konnte und sich das selbst übel nahm. Im Grunde verstand er die Missachtung seines Vaters, dessen Erwartungen er nie genügen konnte, obwohl er wusste, dass der Vater sich nie die Mühe gemacht hatte, ihn zu verstehen. Dieser hatte ganz klare Rollenvorstellungen eines richtigen Mannes und Franz Kafka entsprach ihnen einfach nicht. Des Vaters Überzeugung, dass nur der ungenügende Sohn daran die Schuld trage, übernahm Kafka-Junior unbewusst als Bürde für sein Leben. „So hast du mir zum Beispiel vor kurzem gesagt: ‘Ich habe Dich immer gern gehabt, wenn ich auch äußerlich nicht so zu Dir war wie andere Väter zu sein pflegen, eben deshalb, weil ich mich nicht verstellen kann wie andere’”. Also schlussfolgert Kafka, dass er bei dem Vater keine natürlichen Gefühle hervorrufen kann, läge eben daran, dass er nichts Liebenswertes an sich hat.
Kafka analysiert in diesem Brief, den er nie abgeschickt hat, die zahlreichen Verquickungen dieser komplizierten Beziehung, aus deren Fängen er sich nie ganz befreien konnte, mit einer so großen Präzision, Formulierungsschärfe und Argumentationstiefe, dass es eine Freude ist, wenn ein Schauspieler wie Alfonso Assor sie interpretiert, der ebenso genau die Worte artikuliert, die Sätze nach ihrem Kontexten abklopft und jede Bedeutungsebene versucht aufzudecken. Hier paart sich ein Autor mit einem Schauspieler, die eine Liebe zur Sprache teilen, die sich in einer Genauigkeit bei ihrer Verwendung ausdrückt, die in dieser Unbedingtheit in jedem Moment spürbar ist. In der Art und Weise, wie Assor sich diesem Text annimmt, steckt eine Wertschätzung seiner analytischen und psychologischen Tiefe in Form und in Inhalt, die sich auf die Zuschauer:innen im Kellertheater überträgt. So kann man sich ganz auf Kafkas Gedankengänge konzentrieren. Ein Abend, der erfahrbar macht, welche Möglichkeiten Sprache in sich bergen kann. und darüber, wie schlampig sie oft im alltäglichen Leben verwendet wird. Wie schön während einer solchen Auszeit in dieser Parallelwelt unter der Oberfläche Kreuzbergs erleben zu können, wieviel Mehrwert es bringt, sich ihr mit voller Aufmerksamkeit und Leidenschaft zu widmen.
Birgit Schmalmack vom 29.8.24