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Sokrates kommt
Als Richter über einen Wahrheitssucher
An einer großen rechteckigen Tafel nehmen die Zuschauer Platz. Jeweils ein Apfel und eine Schlafbrille liegen vor ihnen auf dem weißen Tischtuch. Sie blicken auf einen Sarg, der in der Bühnenarena steht. An den Rändern lehnen fünf junge Leute, alle in Tiefschwarz gekleidet. Mikroports verstärken ihre Stimmen, wo immer sie sich im Raum befinden. Jeder der Zuschauer wird so zum Richter über Sokrates, der hier in fünffacher Ausfertigung in ihrer Mitte um sein Leben argumentiert. Denn er ist der Götterleugnung und des Verderbens der Jugend angeklagt und tritt hier vor seine Tribunal aus 501 Richtern der Athener Gesellschaft an.
Er will die Athener Bürger (und die Hamburger) aus ihrem Schlaf der vorgeblichen Gewissheiten wecken. Er sagt die Wahrheit und dafür wird er gehasst.
Das Orakel von Delphi hatte ihn auf Anfrage eines Freundes als weisesten Mann benannt. Als er sich nun aufmachte, weisere Männer als sich selbst auszumachen, stieß er auf viel Schein und wenig Wissen. Diese Entlarvungstätigkeit nahm man ihm übel. Denn eines unterscheidet ihn von den Übrigen: Er weiß, dass er nichts weiß. Diese Infragestellung aller Gewissheiten ist so verunsichernd, dass dieses Gedankengut nach dem Willen der Athener keine Schule unter der Jugend machen soll.
So wird Sokrates mit knapper Mehrheit zum Tode verurteilt. Der blaue Schierlingsbecher steht schon auf dem Sarg bereit. Er bereitet ihm den Weg in den Tod, der das Nichts aber die Wiedervereinigung mit allen Toten bedeuten kann. So verabschiedet Sokrates sich von seinen Richtern.
Die SpitterGruppe unter der Regie von Christian Gefert hat sich die Apologie von Platon vorgenommen und sie in der Johannis-Kirche in Szene gesetzt. Der würdevolle Raum unterstützt die eindringliche Stimmung, die die fünf jungen Schauspieler mit großer Intensität erzeugten. Verzichtbar wäre dabei die gewollte Modernisierung durch eigene Kommentare gewesen; sie mussten naturgemäß in Sprache und Qualität gegenüber dem Originaltext abfallen. Der hat aber keinerlei Aktualisierungen nötig, denn er ist so modern und sprachgewaltig wie zu seiner Entstehungszeit.
Birgit Schmalmack vom 26.8.10