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Wiederaufnahmen im
Schauspielhaus: Die Dreigroschenoper
Der Mensch an sich ist schlecht
Die Erde ist eine öde Steinwüste, auf der die Menschen ihr Leben fristen müssen. In hautfarbenen Trikots ohne jede Verkleidung kommt ihre Natur gnadenlos zum Vorschein. Und die ist schlecht. Berthold Brecht weiß, warum: "Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral". Nur Gaunerei und Korruption füllt die Mägen. Erst durch sie kann man am Aufstieg im Bühnen bestimmenden Gitterturmaufzug teilhaben.
Regisseur Jarg Patakis gewinnt der Dreigroschenoper im Schauspielhaus eine abstrakte, neue Sichtweise ab. Stilisiert nimmt er den Figuren zwar ihre Persönlichkeit, aber schenkt ihnen dafür eine artifizielle Universalität, die jedem folkloristischen Ansatz vor vornherein eine Absage erteilt. Die Musiker sind Teil der Bühne und blasen mitunter den Schauspielern direkt den Marsch. Tolle Inszenierung! (684)
Schauspielhaus: Jan Plewka singt Rio Reiser
Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird.
Rio Reiser wollte die Welt verändern. Dafür ging er mit seiner Band "Ton, Steine, Scherben" auf die Bühne und forderte: "Keine Macht für Niemand!" Wie romantisch seine Ideale waren, macht nun Jan Plewka in seiner Show im Schauspielhaus deutlich. Ungeheuer zärtlich und liebevoll verkörpert er den zarten, rebellischen Träumer, in dessen gebrochener Stimme, die heiser ihre Sehnsüchte herausschreit, schon der Verlust der Hoffnung mit anklingt. "Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird." Jan Plewka erzeugt mit seiner Band "Schwarz-rote Heilsarmee" eine Stimmung auf der Bühne des Schauspielhauses, die einen auf den Sitzkissen enger zusammenrücken lässt.
Das ist ein Abend zum Träumen, zum Schwelgen in einer Welt, die Rio Reiser sich sicher so gewünscht hätte. (666)
Schauspielhaus: Mein Essen mit Andre
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Zwei alte Freunde sind zu einem Abendessen in einem Lokal der Oberklasse verabredet. Die Rollen sind von Anfang an klar verteilt: Der eine – der berühmte New Yorker Theaterregisseur André Gregory (Jörg Knebel)- redet, gestikuliert und erzählt, der andere - Wallace Shawn (Janning Kahnert) - nickt zustimmend, schaut fragend und hört zu. Als dieser zum Schluss einem eigenen Standpunkt wagt, wird der Kellner sofort zum Bringen der Rechnung aufgefordert. Das Durchschauen der angeprangerten New Yorker Verhaltensmuster scheint Andre nicht vor ihren Fallstricken geschützt zu haben. In der Bar des Maritimhotels hat Dominique Schnizer die Verfilmung von "Mein Essen mit André" in Szene gesetzt. Die Zuschauer konnten mit dem angenehmen Gefühl nach Hause gehen, zwei interessante Menschen persönlich bei einem Abendessen kennen gelernt zu haben. (719)









Thalia: Andersen – Trip zwischen den Welten
Skurril überzeichneter Existenzialismus
Andersens Märchen "Vom Schatten" wird unter Regie von Stefan Pucher zu einem auf der Bühne visualisierten Alptraum. Während sich in dem farblosen 3D-Bild die Personen aus Andersens Märchen tummeln, spielen sich auf der hinteren Bühnenleinwand häusliche Katastrophen ab. Durch geöffnete Wandflächen in der weißen, unschuldigen Reliefwand wird die Sicht auf schlaflose Menschen möglich. Erleuchtete Fenster erlauben den Blick hinter die Fassaden. Man blickt auf blut spritzende Auseinandersetzungen in den heilig gehaltenen, heimischen vier Wänden. Alle Personen auf der Bühne spielen gekonnt mit skurrilen Übertreibungen, die in den besten Momenten an Wilson-Arbeiten erinnern. Die seicht umspülenden Musikeinlagen von Erobique verstärken diese in Richtung ironisierender Witz. Eine sehenswerte Aufführung! (699)

Schauspielhaus: Kinder der Sonne
Alles Illusion
Kinder der Sonne sind wir, behauptet der Wissenschaftler Pavel (Jens Harzer). Doch die Sonne, von der er in seinem abgeschrabten Bürostuhl philosophiert, ist nur mit dicken ungelenken Pinselstrichen auf die große Leinwandrolle gemalt. Maxim Gorki entwirft in "Kinder der Sonne" ein Nachtasyl mit umgekehrten Vorzeichen. Hier sind es nicht die Ärmsten und von der Gesellschaft Ausgeschlossenen, die er beschreibt, sondern die Privilegierten. Im Gegensatz zum minimalistischen Bühnenbild zeichnet Regisseur Luk Perseval die psychologischen Feinheiten der Personen sorgsam nach. Das exquisite Ensemble zaubert auf dem einfachen Brettergestell eine Lebenswelt, die interessiert. Wie viel beeindruckender hätte der Abend noch werden können, wenn die Regie mehr Bewegungsfreiheit und das Bühnenbild mehr Fantasieanreiz ermöglicht hätte. (720)



Birgit Schmalmack