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Frühlings Erwachen
Leben ist Geschmacksache
Wendla stülpt sich die eine Zinkbadewanne über den Kopf. Melchior schnappt sich schnell die zweite. Kopflos rennen sie so über den mit Sägespänen bestreuten Boden. Wie auf einer Co-Gart-Bahn rasen sie zusammen. Lachten und kicherten sie gerade eben noch, bleiben sie jetzt verwirrt stehen und schauen sich eingeschüchtert an und dann schnell zu Boden. Für die Beiden ist die Lebensphase, die sie gerade durchleben, äußerst verunsichernd. In der Pubertät beginnt sie das andere Geschlecht zu interessieren, doch Anfang des 19. Jahrhunderts ist das noch mit vielen Tabus verbunden. So glaubt Wendla der Erklärung ihrer Mutter, dass Kinder nur dann zustande kommen können, wenn man den Mann wahrhaft lieben würde. Sie spielt mit ihrem Freund „Melchi“ ein neues aufregendes Spiel: Sie gehen miteinander in das rostige Metallbett, das Wendla zu diesem Zwecke extra mit vielen weichen Decken ausgestattet hat. Melchior hätte es besser wissen können. Er hat eine aufgeklärte und aufklärende Mutter. Doch sein Wissen wird ihm und seinem Freund Moritz zum Verhängnis. Der neugierige Junge bat Melchior um eine kleine Aufklärungsschrift.
Die Erwachsenen werden als übergroße Filmeinspielungen gezeigt. Eine interessante, schlüssige Idee, um ihre Übermacht und die daraus resultierenden Abhängigkeiten deutlich zu machen. Die Jugendlichen erschienen vor den Leinwänden zu beiden Seiten als kleine Schattenfiguren, die an die „Großen“ nicht heranreichen können.
Nils Daniel Finkh findet einfache, eindrückliche Situationen und Bilder für Wedekinds „Frühlingserwachen“. Er macht die Not der Jugendlichen zur damaligen Zeit, nachvollziehbar und spürbar. Dass ihm das gelingt, liegt neben dem stimmigen Konzept an den grandiosen Schauspielern, die alle fünf hervorragend besetzt sind. Die jungen Darsteller loten die Vielschichtigkeit der Problematik ihrer Rollen in jeder Hinsicht aus.
Finkhs Inszenierung, die vor zwei Jahren im Malersaal Premiere feierte, wird jetzt in seiner neuen Theaterfabrik wieder gezeigt. Klugerweise wurde dafür die große Bühnenhalle auf Malersaalgröße abgeteilt und der weiche Bühnenspielboden wieder in die Mitte zwischen zwei Zuschauertribünen gesetzt. Eine wunderbare Inszenierung, die sogar einen zweiten Besuch lohnt!
Birgit Schmalmack vom 4.6.05